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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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auseinandergerückt werden u. s. f. Die ganze Thätigkeit, welche diesen
Mangel zu ergänzen hat, könnten wir mit einem aus der Malerei
entlehnten Ausdruck eine Haltung gebende nennen. Unter Haltung
versteht man, wenn in einem Gemälde sich Alles klar und schlagend
voneinander abhebt, einander zurücktreibt, auseinander und hintereinander
tritt. Diese Wirkung bringt der Maler allerdings hauptsächlich durch die
speziellen Mittel der Ausführung, Licht und Schatten, Farbe, Linear-
und Luftperspective hervor, allein schon in der Anlegung der Skizze, selbst
sofern sie noch erst gezeichnet wird, muß sich ihm darstellen, daß die
Bedingungen der Haltung tiefer, in der Composition selbst liegen. Es
muß abgetheilt, es muß durchgeschnitten, es muß gestrichen, es muß aber
auch hinzucomponirt werden. Auch dieser Act, sagt der §., ist nicht nur
ein Messen, sondern auch ein erweitertes Schaffen; es können ganze
Figuren, Gruppen u. s. w. hinzutreten müßen, um die nothwendige
Klarheit der Theilung einzuführen; aber auch die Ausscheidung solcher,
welche die Schärfe der Sonderung hindern, ist ein Schaffen. Nothwendig
jedoch ist es nicht, daß ganze Theile des innern Entwurfs entfernt oder
neue hinzugefügt werden; auch ohne solche bedeutendere Veränderungen
ist das messende Theilen ein neues Schaffen. Man frage sich, ob in
dem Bilde, das sich Lconardo da Vinci von seinem Abendmahl (auf das
zu diesem Zwecke schon die Anm. zu §. 399 hingewiesen hat) innerlich
entworfen hatte, jene organische Theilung der 12 Jünger in Gruppen von
je drei Männern, die sich so klar voneinander abheben, so verschieden und
doch so symmetrisch gestellt und alle von der Einheit des Eindrucks durchzuckt
sind, welchen die Worte Christi hervorgerufen haben, mit der Bestimmtheit
durchgeführt war, wie in seinem Gemälde? (vergl. Göthes Werke Band 39.
Abendmahl von Leon. da Vinci.)

2. Der Begriff des Contrastes, zu dem sich die vorhergehende
allgemeinere Forderung nun zusammenzieht, ist im ersten Theile des
Systems aufgetreten in dem Abschnitte: das Schöne im Widerstreit seiner
Momente. Er muß in der Kunstlehre wieder, und zwar in einem ganz
neuen Sinne auftreten und darum wurde auch dort der Ausdruck Contrast
wenig gebraucht. Contrast nämlich ist hergebrachtermaßen mehr ein
Kunst-Ausdruck, als ein allgemein ästhetischer, d. h. als eine Benennung
für jene innere Bewegung im Wesen des Schönen, wodurch seine zwei
Momente sich voneinander abstoßend das Erhabene und Komische bilden.
Nicht nur dieser innere Gegenstoß selbst wird in dem erst innerlich
entworfenen Bilde, wenn es an die Ausführung geht, als noch nicht
hinreichend sichtbar und scharf einer Aufhöhung durch derberen Strich
und Farbe sich als bedürftig erweisen; der Contrast tritt als Kunstgesetz

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 3

auseinandergerückt werden u. ſ. f. Die ganze Thätigkeit, welche dieſen
Mangel zu ergänzen hat, könnten wir mit einem aus der Malerei
entlehnten Ausdruck eine Haltung gebende nennen. Unter Haltung
verſteht man, wenn in einem Gemälde ſich Alles klar und ſchlagend
voneinander abhebt, einander zurücktreibt, auseinander und hintereinander
tritt. Dieſe Wirkung bringt der Maler allerdings hauptſächlich durch die
ſpeziellen Mittel der Ausführung, Licht und Schatten, Farbe, Linear-
und Luftperſpective hervor, allein ſchon in der Anlegung der Skizze, ſelbſt
ſofern ſie noch erſt gezeichnet wird, muß ſich ihm darſtellen, daß die
Bedingungen der Haltung tiefer, in der Compoſition ſelbſt liegen. Es
muß abgetheilt, es muß durchgeſchnitten, es muß geſtrichen, es muß aber
auch hinzucomponirt werden. Auch dieſer Act, ſagt der §., iſt nicht nur
ein Meſſen, ſondern auch ein erweitertes Schaffen; es können ganze
Figuren, Gruppen u. ſ. w. hinzutreten müßen, um die nothwendige
Klarheit der Theilung einzuführen; aber auch die Ausſcheidung ſolcher,
welche die Schärfe der Sonderung hindern, iſt ein Schaffen. Nothwendig
jedoch iſt es nicht, daß ganze Theile des innern Entwurfs entfernt oder
neue hinzugefügt werden; auch ohne ſolche bedeutendere Veränderungen
iſt das meſſende Theilen ein neues Schaffen. Man frage ſich, ob in
dem Bilde, das ſich Lconardo da Vinci von ſeinem Abendmahl (auf das
zu dieſem Zwecke ſchon die Anm. zu §. 399 hingewieſen hat) innerlich
entworfen hatte, jene organiſche Theilung der 12 Jünger in Gruppen von
je drei Männern, die ſich ſo klar voneinander abheben, ſo verſchieden und
doch ſo ſymmetriſch geſtellt und alle von der Einheit des Eindrucks durchzuckt
ſind, welchen die Worte Chriſti hervorgerufen haben, mit der Beſtimmtheit
durchgeführt war, wie in ſeinem Gemälde? (vergl. Göthes Werke Band 39.
Abendmahl von Leon. da Vinci.)

2. Der Begriff des Contraſtes, zu dem ſich die vorhergehende
allgemeinere Forderung nun zuſammenzieht, iſt im erſten Theile des
Syſtems aufgetreten in dem Abſchnitte: das Schöne im Widerſtreit ſeiner
Momente. Er muß in der Kunſtlehre wieder, und zwar in einem ganz
neuen Sinne auftreten und darum wurde auch dort der Ausdruck Contraſt
wenig gebraucht. Contraſt nämlich iſt hergebrachtermaßen mehr ein
Kunſt-Ausdruck, als ein allgemein äſthetiſcher, d. h. als eine Benennung
für jene innere Bewegung im Weſen des Schönen, wodurch ſeine zwei
Momente ſich voneinander abſtoßend das Erhabene und Komiſche bilden.
Nicht nur dieſer innere Gegenſtoß ſelbſt wird in dem erſt innerlich
entworfenen Bilde, wenn es an die Ausführung geht, als noch nicht
hinreichend ſichtbar und ſcharf einer Aufhöhung durch derberen Strich
und Farbe ſich als bedürftig erweiſen; der Contraſt tritt als Kunſtgeſetz

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 3
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[33/0045] auseinandergerückt werden u. ſ. f. Die ganze Thätigkeit, welche dieſen Mangel zu ergänzen hat, könnten wir mit einem aus der Malerei entlehnten Ausdruck eine Haltung gebende nennen. Unter Haltung verſteht man, wenn in einem Gemälde ſich Alles klar und ſchlagend voneinander abhebt, einander zurücktreibt, auseinander und hintereinander tritt. Dieſe Wirkung bringt der Maler allerdings hauptſächlich durch die ſpeziellen Mittel der Ausführung, Licht und Schatten, Farbe, Linear- und Luftperſpective hervor, allein ſchon in der Anlegung der Skizze, ſelbſt ſofern ſie noch erſt gezeichnet wird, muß ſich ihm darſtellen, daß die Bedingungen der Haltung tiefer, in der Compoſition ſelbſt liegen. Es muß abgetheilt, es muß durchgeſchnitten, es muß geſtrichen, es muß aber auch hinzucomponirt werden. Auch dieſer Act, ſagt der §., iſt nicht nur ein Meſſen, ſondern auch ein erweitertes Schaffen; es können ganze Figuren, Gruppen u. ſ. w. hinzutreten müßen, um die nothwendige Klarheit der Theilung einzuführen; aber auch die Ausſcheidung ſolcher, welche die Schärfe der Sonderung hindern, iſt ein Schaffen. Nothwendig jedoch iſt es nicht, daß ganze Theile des innern Entwurfs entfernt oder neue hinzugefügt werden; auch ohne ſolche bedeutendere Veränderungen iſt das meſſende Theilen ein neues Schaffen. Man frage ſich, ob in dem Bilde, das ſich Lconardo da Vinci von ſeinem Abendmahl (auf das zu dieſem Zwecke ſchon die Anm. zu §. 399 hingewieſen hat) innerlich entworfen hatte, jene organiſche Theilung der 12 Jünger in Gruppen von je drei Männern, die ſich ſo klar voneinander abheben, ſo verſchieden und doch ſo ſymmetriſch geſtellt und alle von der Einheit des Eindrucks durchzuckt ſind, welchen die Worte Chriſti hervorgerufen haben, mit der Beſtimmtheit durchgeführt war, wie in ſeinem Gemälde? (vergl. Göthes Werke Band 39. Abendmahl von Leon. da Vinci.) 2. Der Begriff des Contraſtes, zu dem ſich die vorhergehende allgemeinere Forderung nun zuſammenzieht, iſt im erſten Theile des Syſtems aufgetreten in dem Abſchnitte: das Schöne im Widerſtreit ſeiner Momente. Er muß in der Kunſtlehre wieder, und zwar in einem ganz neuen Sinne auftreten und darum wurde auch dort der Ausdruck Contraſt wenig gebraucht. Contraſt nämlich iſt hergebrachtermaßen mehr ein Kunſt-Ausdruck, als ein allgemein äſthetiſcher, d. h. als eine Benennung für jene innere Bewegung im Weſen des Schönen, wodurch ſeine zwei Momente ſich voneinander abſtoßend das Erhabene und Komiſche bilden. Nicht nur dieſer innere Gegenſtoß ſelbſt wird in dem erſt innerlich entworfenen Bilde, wenn es an die Ausführung geht, als noch nicht hinreichend ſichtbar und ſcharf einer Aufhöhung durch derberen Strich und Farbe ſich als bedürftig erweiſen; der Contraſt tritt als Kunſtgeſetz Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 3

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/45>, abgerufen am 29.03.2024.