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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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a. Die Baukunst des Alterthums.
1. Die orientalische Baukunst.
§. 578.

Daß der orientalische Geist auf die Baukunst als die ihm vorzugsweise1.
entsprechende Form angewiesen war, erhellt aus der Vergleichung ihres Wesens
§. 553--561 mit der orientalischen Phantasie §. 426--430. Allein aus die-
sem Zusammentreffen geht keineswegs hervor, daß die Baukunst im Morgen-
lande sich zur Vollkommenheit entwickeln konnte; vielmehr geben die orientali-
schen (und andere, auf ähnlicher Stufe stehende) Völker den Grundzügen, in
denen ihr Geist mit dem Wesen dieser Kunst zusammentrifft, die besondere Be-
stimmtheit, die aus seiner eigenen Unreise entspringt. Diese besteht vor Allem2.
darin, daß hier die Baukunst im engeren Sinne symbolisch auftritt, in-
dem sie entweder selbständig, d. h. ohne ein Inneres zu umschließen (vergl.
§. 555) und daher in die Nachahmung der individuellen Gestalt in der Weise
der auf das tastende Sehen gestellten Phantasie übergreifend, oder abgesehen
von einem zwar vorhandenen Innern und in unverhältnißmäßigem, das Wesen
der Gottheit als ein verborgenes bezeichnenden Uebergewicht der architektonischen
Masse zu diesem einen geheimnißvollen Sinn auszudrücken sucht.

1. In den Ueberschriften müßten sich eigentlich die bereits den Inhalt
bezeichnenden Bestimmungen der Ueberschriften zu a, a u. s. w. in B des
zweiten Abschnitts des zweiten Theils wiederholen; wir vermeiden dieß
hier und fernerhin der Kürze wegen. Die Darstellung selbst wird zeigen,
wie und warum die classische Baukunst eine objective ist, die mittelalter-
liche eine phantastisch subjective u. s. w. -- Die orientalische Phantasie
ist als eine dunkel und traumartig suchende, wesentlich dualistische symbo-
lisch, sie geht auf das Erhabene, sie ist vorherrschend eine bildende und
zwar im Sinne des messenden Sehens, sie ist stabil. Dieß Alles ist in
den angeführten §§. schon so vollständig auseinandergesetzt, daß zu
§. 430, 1. (Th. II, S. 429) gesagt werden konnte: "in der Kunstlehre
dürfen wir nur die Schlußfolgerung pflücken, so wird einleuchten, daß die
eigentliche Kunst der orientalischen Völker die Baukunst war". Die Bau-
kunst haben wir als die elementare Urkunst kennen gelernt, wir dürfen
diesen ihren elementaren Charakter mit dem elementaren Urgeiste jener
Völker, in dem alle Bildung unentwickelt eingehüllt ist, nur einfach zu-
sammenhalten, um diesen Satz bestätigt zu sehen. Denn ganz im Allge-

α. Die Baukunſt des Alterthums.
1. Die orientaliſche Baukunſt.
§. 578.

Daß der orientaliſche Geiſt auf die Baukunſt als die ihm vorzugsweiſe1.
entſprechende Form angewieſen war, erhellt aus der Vergleichung ihres Weſens
§. 553—561 mit der orientaliſchen Phantaſie §. 426—430. Allein aus die-
ſem Zuſammentreffen geht keineswegs hervor, daß die Baukunſt im Morgen-
lande ſich zur Vollkommenheit entwickeln konnte; vielmehr geben die orientali-
ſchen (und andere, auf ähnlicher Stufe ſtehende) Völker den Grundzügen, in
denen ihr Geiſt mit dem Weſen dieſer Kunſt zuſammentrifft, die beſondere Be-
ſtimmtheit, die aus ſeiner eigenen Unreiſe entſpringt. Dieſe beſteht vor Allem2.
darin, daß hier die Baukunſt im engeren Sinne ſymboliſch auftritt, in-
dem ſie entweder ſelbſtändig, d. h. ohne ein Inneres zu umſchließen (vergl.
§. 555) und daher in die Nachahmung der individuellen Geſtalt in der Weiſe
der auf das taſtende Sehen geſtellten Phantaſie übergreifend, oder abgeſehen
von einem zwar vorhandenen Innern und in unverhältnißmäßigem, das Weſen
der Gottheit als ein verborgenes bezeichnenden Uebergewicht der architektoniſchen
Maſſe zu dieſem einen geheimnißvollen Sinn auszudrücken ſucht.

1. In den Ueberſchriften müßten ſich eigentlich die bereits den Inhalt
bezeichnenden Beſtimmungen der Ueberſchriften zu a, α u. ſ. w. in B des
zweiten Abſchnitts des zweiten Theils wiederholen; wir vermeiden dieß
hier und fernerhin der Kürze wegen. Die Darſtellung ſelbſt wird zeigen,
wie und warum die claſſiſche Baukunſt eine objective iſt, die mittelalter-
liche eine phantaſtiſch ſubjective u. ſ. w. — Die orientaliſche Phantaſie
iſt als eine dunkel und traumartig ſuchende, weſentlich dualiſtiſche ſymbo-
liſch, ſie geht auf das Erhabene, ſie iſt vorherrſchend eine bildende und
zwar im Sinne des meſſenden Sehens, ſie iſt ſtabil. Dieß Alles iſt in
den angeführten §§. ſchon ſo vollſtändig auseinandergeſetzt, daß zu
§. 430, 1. (Th. II, S. 429) geſagt werden konnte: „in der Kunſtlehre
dürfen wir nur die Schlußfolgerung pflücken, ſo wird einleuchten, daß die
eigentliche Kunſt der orientaliſchen Völker die Baukunſt war“. Die Bau-
kunſt haben wir als die elementare Urkunſt kennen gelernt, wir dürfen
dieſen ihren elementaren Charakter mit dem elementaren Urgeiſte jener
Völker, in dem alle Bildung unentwickelt eingehüllt iſt, nur einfach zu-
ſammenhalten, um dieſen Satz beſtätigt zu ſehen. Denn ganz im Allge-

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[267/0107] α. Die Baukunſt des Alterthums. 1. Die orientaliſche Baukunſt. §. 578. Daß der orientaliſche Geiſt auf die Baukunſt als die ihm vorzugsweiſe entſprechende Form angewieſen war, erhellt aus der Vergleichung ihres Weſens §. 553—561 mit der orientaliſchen Phantaſie §. 426—430. Allein aus die- ſem Zuſammentreffen geht keineswegs hervor, daß die Baukunſt im Morgen- lande ſich zur Vollkommenheit entwickeln konnte; vielmehr geben die orientali- ſchen (und andere, auf ähnlicher Stufe ſtehende) Völker den Grundzügen, in denen ihr Geiſt mit dem Weſen dieſer Kunſt zuſammentrifft, die beſondere Be- ſtimmtheit, die aus ſeiner eigenen Unreiſe entſpringt. Dieſe beſteht vor Allem darin, daß hier die Baukunſt im engeren Sinne ſymboliſch auftritt, in- dem ſie entweder ſelbſtändig, d. h. ohne ein Inneres zu umſchließen (vergl. §. 555) und daher in die Nachahmung der individuellen Geſtalt in der Weiſe der auf das taſtende Sehen geſtellten Phantaſie übergreifend, oder abgeſehen von einem zwar vorhandenen Innern und in unverhältnißmäßigem, das Weſen der Gottheit als ein verborgenes bezeichnenden Uebergewicht der architektoniſchen Maſſe zu dieſem einen geheimnißvollen Sinn auszudrücken ſucht. 1. In den Ueberſchriften müßten ſich eigentlich die bereits den Inhalt bezeichnenden Beſtimmungen der Ueberſchriften zu a, α u. ſ. w. in B des zweiten Abſchnitts des zweiten Theils wiederholen; wir vermeiden dieß hier und fernerhin der Kürze wegen. Die Darſtellung ſelbſt wird zeigen, wie und warum die claſſiſche Baukunſt eine objective iſt, die mittelalter- liche eine phantaſtiſch ſubjective u. ſ. w. — Die orientaliſche Phantaſie iſt als eine dunkel und traumartig ſuchende, weſentlich dualiſtiſche ſymbo- liſch, ſie geht auf das Erhabene, ſie iſt vorherrſchend eine bildende und zwar im Sinne des meſſenden Sehens, ſie iſt ſtabil. Dieß Alles iſt in den angeführten §§. ſchon ſo vollſtändig auseinandergeſetzt, daß zu §. 430, 1. (Th. II, S. 429) geſagt werden konnte: „in der Kunſtlehre dürfen wir nur die Schlußfolgerung pflücken, ſo wird einleuchten, daß die eigentliche Kunſt der orientaliſchen Völker die Baukunſt war“. Die Bau- kunſt haben wir als die elementare Urkunſt kennen gelernt, wir dürfen dieſen ihren elementaren Charakter mit dem elementaren Urgeiſte jener Völker, in dem alle Bildung unentwickelt eingehüllt iſt, nur einfach zu- ſammenhalten, um dieſen Satz beſtätigt zu ſehen. Denn ganz im Allge-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/107>, abgerufen am 19.04.2024.