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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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Zweiter Abschnitt.
Die Künste.


Erste Gattung.
Die objective Kunstform oder die bildenden Künste.
§. 550.

Nach dem in §. 533--537 begründeten Gesetze tritt zuerst die bildende
Phantasie
(§. 404) als Urheberin einer bestimmten Kunstform hervor.
Auf das Gesicht organisirt, ist sie im Raume thätig an dem körperlich aus-
gedehnten und schweren Stoff als ihrem Materiale. Das vollendete Werk
steht bewegungslos und stumm dem Zuschauer gegenüber, vermittelt ihm
durch das Auge das innere Bild, zu dessen Träger der Stoff umgeschaffen ist,
und lebt in seiner Phantasie zu Bewegung und Sprache auf.

Das Theilungsprinzip ist in den angeführten §§. zunächst äußerlich
auf die Natur des Materials gegründet, dann in die Tiefe verfolgt, auf
die Arten der Phantasie §. 402--404 und in letzter Instanz auf das
Grundgesetz des Systems, das Auseinandertreten des Schönen in eine
objective und subjective Form und die Vereinigung dieser Gegensätze,
zurückgeführt. Wenn von der bildenden Kunst gesagt ist, sie sei es, die
"zuerst" auftrete, so ist dieß zunächst Bezeichnung nicht zeitlicher, sondern
begriffsmäßiger Folge. Alles Dasein ist wesentlich Körperliches im Raume,
aller Bethätigung in der Zeit ist diese Grundform vorausgesetzt; so muß
auch die Kunstform, welche den naturschönen Stoff wesentlich als räum-
lichen erfaßt und nachbildet, die erste sein. Allerdings ist jedoch dieses
Vorausgehen dem Begriffe nach in gewissem Sinn auch ein Vorausgehen
der Zeit nach. Schon zu §. 533, 1. ist berührt, daß die Musik und

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 12
Zweiter Abſchnitt.
Die Künſte.


Erſte Gattung.
Die objective Kunſtform oder die bildenden Künſte.
§. 550.

Nach dem in §. 533—537 begründeten Geſetze tritt zuerſt die bildende
Phantaſie
(§. 404) als Urheberin einer beſtimmten Kunſtform hervor.
Auf das Geſicht organiſirt, iſt ſie im Raume thätig an dem körperlich aus-
gedehnten und ſchweren Stoff als ihrem Materiale. Das vollendete Werk
ſteht bewegungslos und ſtumm dem Zuſchauer gegenüber, vermittelt ihm
durch das Auge das innere Bild, zu deſſen Träger der Stoff umgeſchaffen iſt,
und lebt in ſeiner Phantaſie zu Bewegung und Sprache auf.

Das Theilungsprinzip iſt in den angeführten §§. zunächſt äußerlich
auf die Natur des Materials gegründet, dann in die Tiefe verfolgt, auf
die Arten der Phantaſie §. 402—404 und in letzter Inſtanz auf das
Grundgeſetz des Syſtems, das Auseinandertreten des Schönen in eine
objective und ſubjective Form und die Vereinigung dieſer Gegenſätze,
zurückgeführt. Wenn von der bildenden Kunſt geſagt iſt, ſie ſei es, die
zuerſt“ auftrete, ſo iſt dieß zunächſt Bezeichnung nicht zeitlicher, ſondern
begriffsmäßiger Folge. Alles Daſein iſt weſentlich Körperliches im Raume,
aller Bethätigung in der Zeit iſt dieſe Grundform vorausgeſetzt; ſo muß
auch die Kunſtform, welche den naturſchönen Stoff weſentlich als räum-
lichen erfaßt und nachbildet, die erſte ſein. Allerdings iſt jedoch dieſes
Vorausgehen dem Begriffe nach in gewiſſem Sinn auch ein Vorausgehen
der Zeit nach. Schon zu §. 533, 1. iſt berührt, daß die Muſik und

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 12
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[[173]/0013] Zweiter Abſchnitt. Die Künſte. Erſte Gattung. Die objective Kunſtform oder die bildenden Künſte. §. 550. Nach dem in §. 533—537 begründeten Geſetze tritt zuerſt die bildende Phantaſie (§. 404) als Urheberin einer beſtimmten Kunſtform hervor. Auf das Geſicht organiſirt, iſt ſie im Raume thätig an dem körperlich aus- gedehnten und ſchweren Stoff als ihrem Materiale. Das vollendete Werk ſteht bewegungslos und ſtumm dem Zuſchauer gegenüber, vermittelt ihm durch das Auge das innere Bild, zu deſſen Träger der Stoff umgeſchaffen iſt, und lebt in ſeiner Phantaſie zu Bewegung und Sprache auf. Das Theilungsprinzip iſt in den angeführten §§. zunächſt äußerlich auf die Natur des Materials gegründet, dann in die Tiefe verfolgt, auf die Arten der Phantaſie §. 402—404 und in letzter Inſtanz auf das Grundgeſetz des Syſtems, das Auseinandertreten des Schönen in eine objective und ſubjective Form und die Vereinigung dieſer Gegenſätze, zurückgeführt. Wenn von der bildenden Kunſt geſagt iſt, ſie ſei es, die „zuerſt“ auftrete, ſo iſt dieß zunächſt Bezeichnung nicht zeitlicher, ſondern begriffsmäßiger Folge. Alles Daſein iſt weſentlich Körperliches im Raume, aller Bethätigung in der Zeit iſt dieſe Grundform vorausgeſetzt; ſo muß auch die Kunſtform, welche den naturſchönen Stoff weſentlich als räum- lichen erfaßt und nachbildet, die erſte ſein. Allerdings iſt jedoch dieſes Vorausgehen dem Begriffe nach in gewiſſem Sinn auch ein Vorausgehen der Zeit nach. Schon zu §. 533, 1. iſt berührt, daß die Muſik und Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 12

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. [173]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/13>, abgerufen am 16.04.2024.