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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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aufwachsenden Portals der Facade, welches zugleich im Füllungsfelde
seines Spitzbogens die Stelle für das Relief bot, das mit den reichen
Figurenreihen der Hohlkehlen zu seinen Seiten an diesem Hauptpuncte der
concentrirten Pracht ein großes cyklisches Ganzes, ein kirchliches Epos
zusammenstellte. -- Endlich haben wir noch nach der Farbe zu fragen.
Da im Aeußern durch das unendliche Ornament die Baukunst selbst ma-
lerisch geworden ist, da im Innern fast keine Wandfläche mehr übrig
bleibt, so kann sich dieselbe blos an Einzelnes legen: an die Halbsäulen
der Pfeiler, ihre Kapitelle, an die Gurtrippen; häufig beschränkt sie sich
hier auf eine Bemalung der nächsten Stelle der Kreuzgurtrippen um den
Schlußstein (meist blau, roth, Gold); sie trägt pflanzenartige Aus-
strahlungen in die Gewölbekappen ein, sie färbt die Heiligen und ihre
Häuschen. Aber es soll ein höherer Ersatz für die großen romanischen
und byzantinischen Wandgemälde werden; die Wand ist vom Fenster ein-
genommen; auf diese Stelle concentrirt sich nun die Farbenwirkung als
eine, den Feldern des Maaßwerks in streng architektonischer, höchst or-
ganisch angeschlossener Composition eingeordnete Glasmalerei. Gluthvoll
leuchtend dämpft diese dennoch das grelle Licht, das sonst die Hallen er-
füllen würde und vollendet so durch farbiges Helldunkel den Charakter des
Innerlichen: wie es ein idealer Raum ist, in den wir treten, so ist auch
das Licht ein künstliches, ein ideales, vermitteltes, verinnerlichtes.

§. 593.

Die Freiheit, welche nun so weit geht, daß sie das Structive in eine
allgemeine Empfindungsbewegung (vergl. §. 458) hinauftreibt, schlägt jedoch in
Abhängigkeit um; das rein geistige Aufstreben von der Erde ist ebensosehr an
die äußere Vielheit einer mythischen Ueberfülle gebunden; neben das Innere
fällt ein gerippartiges, stachliches, die vielen Einzelglieder structiv nicht zusam-
menhaltendes Aeußeres; die Weite und Größe verbunden mit dieser Vielheit
und dem farbigen Helldunkel wirkt im Sammeln zerstreuend, berückend: alle
diese Züge fassen sich in dem sinnlich geistigen Dualismus der phantastischen
Subjectivität (vergl. §. 447) zusammen.

Es ist das eigenthümlich Antinomische am gothischen Wunderbau, daß
man im Bewundern seine Schwächen tadeln, im Tadeln wieder be-
wundern muß. Am bestimmtesten hat diese Schwächen des gothischen
"Glashauses" Hübsch (a. a. O.) aufgeführt, er selbst muß aber das
Lob zwischen den Tadel mischen, nur daß jenes nicht in der eigenthüm-
lichen Wage mit diesem schwebt, wie wir es für das Richtige halten. Die
kühne Freiheit ist ebensosehr Abhängigkeit, weil die nun allzuleichten Ge-

aufwachſenden Portals der Façade, welches zugleich im Füllungsfelde
ſeines Spitzbogens die Stelle für das Relief bot, das mit den reichen
Figurenreihen der Hohlkehlen zu ſeinen Seiten an dieſem Hauptpuncte der
concentrirten Pracht ein großes cykliſches Ganzes, ein kirchliches Epos
zuſammenſtellte. — Endlich haben wir noch nach der Farbe zu fragen.
Da im Aeußern durch das unendliche Ornament die Baukunſt ſelbſt ma-
leriſch geworden iſt, da im Innern faſt keine Wandfläche mehr übrig
bleibt, ſo kann ſich dieſelbe blos an Einzelnes legen: an die Halbſäulen
der Pfeiler, ihre Kapitelle, an die Gurtrippen; häufig beſchränkt ſie ſich
hier auf eine Bemalung der nächſten Stelle der Kreuzgurtrippen um den
Schlußſtein (meiſt blau, roth, Gold); ſie trägt pflanzenartige Aus-
ſtrahlungen in die Gewölbekappen ein, ſie färbt die Heiligen und ihre
Häuschen. Aber es ſoll ein höherer Erſatz für die großen romaniſchen
und byzantiniſchen Wandgemälde werden; die Wand iſt vom Fenſter ein-
genommen; auf dieſe Stelle concentrirt ſich nun die Farbenwirkung als
eine, den Feldern des Maaßwerks in ſtreng architektoniſcher, höchſt or-
ganiſch angeſchloſſener Compoſition eingeordnete Glasmalerei. Gluthvoll
leuchtend dämpft dieſe dennoch das grelle Licht, das ſonſt die Hallen er-
füllen würde und vollendet ſo durch farbiges Helldunkel den Charakter des
Innerlichen: wie es ein idealer Raum iſt, in den wir treten, ſo iſt auch
das Licht ein künſtliches, ein ideales, vermitteltes, verinnerlichtes.

§. 593.

Die Freiheit, welche nun ſo weit geht, daß ſie das Structive in eine
allgemeine Empfindungsbewegung (vergl. §. 458) hinauftreibt, ſchlägt jedoch in
Abhängigkeit um; das rein geiſtige Aufſtreben von der Erde iſt ebenſoſehr an
die äußere Vielheit einer mythiſchen Ueberfülle gebunden; neben das Innere
fällt ein gerippartiges, ſtachliches, die vielen Einzelglieder ſtructiv nicht zuſam-
menhaltendes Aeußeres; die Weite und Größe verbunden mit dieſer Vielheit
und dem farbigen Helldunkel wirkt im Sammeln zerſtreuend, berückend: alle
dieſe Züge faſſen ſich in dem ſinnlich geiſtigen Dualiſmus der phantaſtiſchen
Subjectivität (vergl. §. 447) zuſammen.

Es iſt das eigenthümlich Antinomiſche am gothiſchen Wunderbau, daß
man im Bewundern ſeine Schwächen tadeln, im Tadeln wieder be-
wundern muß. Am beſtimmteſten hat dieſe Schwächen des gothiſchen
„Glashauſes“ Hübſch (a. a. O.) aufgeführt, er ſelbſt muß aber das
Lob zwiſchen den Tadel miſchen, nur daß jenes nicht in der eigenthüm-
lichen Wage mit dieſem ſchwebt, wie wir es für das Richtige halten. Die
kühne Freiheit iſt ebenſoſehr Abhängigkeit, weil die nun allzuleichten Ge-

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[322/0162] aufwachſenden Portals der Façade, welches zugleich im Füllungsfelde ſeines Spitzbogens die Stelle für das Relief bot, das mit den reichen Figurenreihen der Hohlkehlen zu ſeinen Seiten an dieſem Hauptpuncte der concentrirten Pracht ein großes cykliſches Ganzes, ein kirchliches Epos zuſammenſtellte. — Endlich haben wir noch nach der Farbe zu fragen. Da im Aeußern durch das unendliche Ornament die Baukunſt ſelbſt ma- leriſch geworden iſt, da im Innern faſt keine Wandfläche mehr übrig bleibt, ſo kann ſich dieſelbe blos an Einzelnes legen: an die Halbſäulen der Pfeiler, ihre Kapitelle, an die Gurtrippen; häufig beſchränkt ſie ſich hier auf eine Bemalung der nächſten Stelle der Kreuzgurtrippen um den Schlußſtein (meiſt blau, roth, Gold); ſie trägt pflanzenartige Aus- ſtrahlungen in die Gewölbekappen ein, ſie färbt die Heiligen und ihre Häuschen. Aber es ſoll ein höherer Erſatz für die großen romaniſchen und byzantiniſchen Wandgemälde werden; die Wand iſt vom Fenſter ein- genommen; auf dieſe Stelle concentrirt ſich nun die Farbenwirkung als eine, den Feldern des Maaßwerks in ſtreng architektoniſcher, höchſt or- ganiſch angeſchloſſener Compoſition eingeordnete Glasmalerei. Gluthvoll leuchtend dämpft dieſe dennoch das grelle Licht, das ſonſt die Hallen er- füllen würde und vollendet ſo durch farbiges Helldunkel den Charakter des Innerlichen: wie es ein idealer Raum iſt, in den wir treten, ſo iſt auch das Licht ein künſtliches, ein ideales, vermitteltes, verinnerlichtes. §. 593. Die Freiheit, welche nun ſo weit geht, daß ſie das Structive in eine allgemeine Empfindungsbewegung (vergl. §. 458) hinauftreibt, ſchlägt jedoch in Abhängigkeit um; das rein geiſtige Aufſtreben von der Erde iſt ebenſoſehr an die äußere Vielheit einer mythiſchen Ueberfülle gebunden; neben das Innere fällt ein gerippartiges, ſtachliches, die vielen Einzelglieder ſtructiv nicht zuſam- menhaltendes Aeußeres; die Weite und Größe verbunden mit dieſer Vielheit und dem farbigen Helldunkel wirkt im Sammeln zerſtreuend, berückend: alle dieſe Züge faſſen ſich in dem ſinnlich geiſtigen Dualiſmus der phantaſtiſchen Subjectivität (vergl. §. 447) zuſammen. Es iſt das eigenthümlich Antinomiſche am gothiſchen Wunderbau, daß man im Bewundern ſeine Schwächen tadeln, im Tadeln wieder be- wundern muß. Am beſtimmteſten hat dieſe Schwächen des gothiſchen „Glashauſes“ Hübſch (a. a. O.) aufgeführt, er ſelbſt muß aber das Lob zwiſchen den Tadel miſchen, nur daß jenes nicht in der eigenthüm- lichen Wage mit dieſem ſchwebt, wie wir es für das Richtige halten. Die kühne Freiheit iſt ebenſoſehr Abhängigkeit, weil die nun allzuleichten Ge-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/162>, abgerufen am 25.04.2024.