Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Mythenkreis neben dem Einen Gott stützen und heften. In einer früheren
Vergleichung fanden wir die Scholastik als geometrischen Schematismus
in der Erfindung und Reglung der Ornamente thätig. Man wird den
Reichthum derselben und das System der Einzelglieder nicht ganz gerecht
beurtheilen, wenn man vom Standpuncte einer so absolut streng nur or-
ganisch charakterisirenden Kunstform ausgeht, wie Bötticher; mehr freie
Poesie, als der einfache griechische Bau zuläßt, muß berechtigt sein. Aber
es gibt auch in diesem weiteren Spielraum ein Maaß, das nur ein so
kühner Bau in seiner Selbständigkeit, nie aber eine Zeit, die das Ganze
nicht selbst genial erfunden hat, überschreiten darf. -- Die colossale Größe
macht das Innere zu einer Welt, einer geistlichen Stadt, worin rührend jeder
seine Seelenlabung jederzeit holen kann (vergl. Hegel Aesth. II, S. 342.
343), allein die vielen Altäre, die gleichzeitigen Gottesdienste, das Ab-
und Zugehen, das hallende Geräusch zerstreut ebensosehr, als es sammelt,
und das farbenglühende Helldunkel entspricht einer Andacht, die zu wenig
Boden schlichten, hellen Denkens hat, um wahre Erbauung zu sein, die
vielmehr eine tiefinnerliche Aufregung ist.

3. Ausgang.
§. 594.

Den Zuständen §. 362 ff. und der Wandlung der Phantasie §. 464 ff.
entspricht von der einen Seite eine Ausschweifung des gothischen Styls von
noch gesteigerter Zierlichkeit in Willkühr, von der andern Seite das durch
deutliche Vorboten einer ganz veränderten Stimmung innerhalb jener Form an-
gekündigte Eindringen classischen, zunächst römischen Styls, dessen anfängliche
bewegtere Mischung mit mittelalterlichen Motiven vorerst einer strengeren Nach-
ahmung weicht. Der realistischer gewordene Sinn zeigt sich zugleich in dem
Ueberwachsen der weltlichen Zweige der Baukunst.

Daß die Kühnheit und unendliche Verzierungsfälle, der malerische,
bewegte Zug des gothischen Styls noch nicht Willkühr genannt, noch nicht
zu den rein unbefugten Einmischungen der Stylgesetze einer Kunst in die
andere geschlagen werden darf, sondern in jener antinomisch schwebenden
Weise aufzufassen ist, wie wir es zum vorhergehenden §. bezeichnet haben,
dafür liegt der sichere Beweis in der Erscheinung einer Stylweise inner-
halb
desselben, welche unzweifelhaft Willkühr ist, die structiven Gesetze
entschieden verspottet, das Ornament augenfällig desorganisirt, also im
Grunde vielmehr Manier zu nennen ist. Anfangs erscheint diese Aus-

Mythenkreis neben dem Einen Gott ſtützen und heften. In einer früheren
Vergleichung fanden wir die Scholaſtik als geometriſchen Schematiſmus
in der Erfindung und Reglung der Ornamente thätig. Man wird den
Reichthum derſelben und das Syſtem der Einzelglieder nicht ganz gerecht
beurtheilen, wenn man vom Standpuncte einer ſo abſolut ſtreng nur or-
ganiſch charakteriſirenden Kunſtform ausgeht, wie Bötticher; mehr freie
Poeſie, als der einfache griechiſche Bau zuläßt, muß berechtigt ſein. Aber
es gibt auch in dieſem weiteren Spielraum ein Maaß, das nur ein ſo
kühner Bau in ſeiner Selbſtändigkeit, nie aber eine Zeit, die das Ganze
nicht ſelbſt genial erfunden hat, überſchreiten darf. — Die coloſſale Größe
macht das Innere zu einer Welt, einer geiſtlichen Stadt, worin rührend jeder
ſeine Seelenlabung jederzeit holen kann (vergl. Hegel Aeſth. II, S. 342.
343), allein die vielen Altäre, die gleichzeitigen Gottesdienſte, das Ab-
und Zugehen, das hallende Geräuſch zerſtreut ebenſoſehr, als es ſammelt,
und das farbenglühende Helldunkel entſpricht einer Andacht, die zu wenig
Boden ſchlichten, hellen Denkens hat, um wahre Erbauung zu ſein, die
vielmehr eine tiefinnerliche Aufregung iſt.

3. Ausgang.
§. 594.

Den Zuſtänden §. 362 ff. und der Wandlung der Phantaſie §. 464 ff.
entſpricht von der einen Seite eine Ausſchweifung des gothiſchen Styls von
noch geſteigerter Zierlichkeit in Willkühr, von der andern Seite das durch
deutliche Vorboten einer ganz veränderten Stimmung innerhalb jener Form an-
gekündigte Eindringen claſſiſchen, zunächſt römiſchen Styls, deſſen anfängliche
bewegtere Miſchung mit mittelalterlichen Motiven vorerſt einer ſtrengeren Nach-
ahmung weicht. Der realiſtiſcher gewordene Sinn zeigt ſich zugleich in dem
Ueberwachſen der weltlichen Zweige der Baukunſt.

Daß die Kühnheit und unendliche Verzierungsfälle, der maleriſche,
bewegte Zug des gothiſchen Styls noch nicht Willkühr genannt, noch nicht
zu den rein unbefugten Einmiſchungen der Stylgeſetze einer Kunſt in die
andere geſchlagen werden darf, ſondern in jener antinomiſch ſchwebenden
Weiſe aufzufaſſen iſt, wie wir es zum vorhergehenden §. bezeichnet haben,
dafür liegt der ſichere Beweis in der Erſcheinung einer Stylweiſe inner-
halb
deſſelben, welche unzweifelhaft Willkühr iſt, die ſtructiven Geſetze
entſchieden verſpottet, das Ornament augenfällig desorganiſirt, alſo im
Grunde vielmehr Manier zu nennen iſt. Anfangs erſcheint dieſe Aus-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0164" n="324"/>
Mythenkreis neben dem Einen Gott &#x017F;tützen und heften. In einer früheren<lb/>
Vergleichung fanden wir die Schola&#x017F;tik als geometri&#x017F;chen Schemati&#x017F;mus<lb/>
in der Erfindung und Reglung der Ornamente thätig. Man wird den<lb/>
Reichthum der&#x017F;elben und das Sy&#x017F;tem der Einzelglieder nicht ganz gerecht<lb/>
beurtheilen, wenn man vom Standpuncte einer &#x017F;o ab&#x017F;olut &#x017F;treng nur or-<lb/>
gani&#x017F;ch charakteri&#x017F;irenden Kun&#x017F;tform ausgeht, wie Bötticher; mehr freie<lb/>
Poe&#x017F;ie, als der einfache griechi&#x017F;che Bau zuläßt, muß berechtigt &#x017F;ein. Aber<lb/>
es gibt auch in die&#x017F;em weiteren Spielraum ein Maaß, das nur ein &#x017F;o<lb/>
kühner Bau in &#x017F;einer Selb&#x017F;tändigkeit, nie aber eine Zeit, die das Ganze<lb/>
nicht &#x017F;elb&#x017F;t genial erfunden hat, über&#x017F;chreiten darf. &#x2014; Die colo&#x017F;&#x017F;ale Größe<lb/>
macht das Innere zu einer Welt, einer gei&#x017F;tlichen Stadt, worin rührend jeder<lb/>
&#x017F;eine Seelenlabung jederzeit holen kann (vergl. Hegel Ae&#x017F;th. <hi rendition="#aq">II,</hi> S. 342.<lb/>
343), allein die vielen Altäre, die gleichzeitigen Gottesdien&#x017F;te, das Ab-<lb/>
und Zugehen, das hallende Geräu&#x017F;ch zer&#x017F;treut eben&#x017F;o&#x017F;ehr, als es &#x017F;ammelt,<lb/>
und das farbenglühende Helldunkel ent&#x017F;pricht einer Andacht, die zu wenig<lb/>
Boden &#x017F;chlichten, hellen Denkens hat, um wahre Erbauung zu &#x017F;ein, die<lb/>
vielmehr eine tiefinnerliche Aufregung i&#x017F;t.</hi> </p>
                    </div>
                  </div><lb/>
                  <div n="7">
                    <head>3. <hi rendition="#g">Ausgang</hi>.</head><lb/>
                    <div n="8">
                      <head>§. 594.</head><lb/>
                      <p> <hi rendition="#fr">Den Zu&#x017F;tänden §. 362 ff. und der Wandlung der Phanta&#x017F;ie §. 464 ff.<lb/>
ent&#x017F;pricht von der einen Seite eine Aus&#x017F;chweifung des gothi&#x017F;chen Styls von<lb/>
noch ge&#x017F;teigerter Zierlichkeit in Willkühr, von der andern Seite das durch<lb/>
deutliche Vorboten einer ganz veränderten Stimmung innerhalb jener Form an-<lb/>
gekündigte Eindringen cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen, zunäch&#x017F;t römi&#x017F;chen Styls, de&#x017F;&#x017F;en anfängliche<lb/>
bewegtere Mi&#x017F;chung mit mittelalterlichen Motiven vorer&#x017F;t einer &#x017F;trengeren Nach-<lb/>
ahmung weicht. Der reali&#x017F;ti&#x017F;cher gewordene Sinn zeigt &#x017F;ich zugleich in dem<lb/>
Ueberwach&#x017F;en der weltlichen Zweige der Baukun&#x017F;t.</hi> </p><lb/>
                      <p> <hi rendition="#et">Daß die Kühnheit und unendliche Verzierungsfälle, der maleri&#x017F;che,<lb/>
bewegte Zug des gothi&#x017F;chen Styls noch nicht Willkühr genannt, noch nicht<lb/>
zu den rein unbefugten Einmi&#x017F;chungen der Stylge&#x017F;etze einer Kun&#x017F;t in die<lb/>
andere ge&#x017F;chlagen werden darf, &#x017F;ondern in jener antinomi&#x017F;ch &#x017F;chwebenden<lb/>
Wei&#x017F;e aufzufa&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, wie wir es zum vorhergehenden §. bezeichnet haben,<lb/>
dafür liegt der &#x017F;ichere Beweis in der Er&#x017F;cheinung einer Stylwei&#x017F;e <hi rendition="#g">inner-<lb/>
halb</hi> de&#x017F;&#x017F;elben, welche unzweifelhaft Willkühr i&#x017F;t, die &#x017F;tructiven Ge&#x017F;etze<lb/>
ent&#x017F;chieden ver&#x017F;pottet, das Ornament augenfällig desorgani&#x017F;irt, al&#x017F;o im<lb/>
Grunde vielmehr Manier zu nennen i&#x017F;t. Anfangs er&#x017F;cheint die&#x017F;e Aus-<lb/></hi> </p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[324/0164] Mythenkreis neben dem Einen Gott ſtützen und heften. In einer früheren Vergleichung fanden wir die Scholaſtik als geometriſchen Schematiſmus in der Erfindung und Reglung der Ornamente thätig. Man wird den Reichthum derſelben und das Syſtem der Einzelglieder nicht ganz gerecht beurtheilen, wenn man vom Standpuncte einer ſo abſolut ſtreng nur or- ganiſch charakteriſirenden Kunſtform ausgeht, wie Bötticher; mehr freie Poeſie, als der einfache griechiſche Bau zuläßt, muß berechtigt ſein. Aber es gibt auch in dieſem weiteren Spielraum ein Maaß, das nur ein ſo kühner Bau in ſeiner Selbſtändigkeit, nie aber eine Zeit, die das Ganze nicht ſelbſt genial erfunden hat, überſchreiten darf. — Die coloſſale Größe macht das Innere zu einer Welt, einer geiſtlichen Stadt, worin rührend jeder ſeine Seelenlabung jederzeit holen kann (vergl. Hegel Aeſth. II, S. 342. 343), allein die vielen Altäre, die gleichzeitigen Gottesdienſte, das Ab- und Zugehen, das hallende Geräuſch zerſtreut ebenſoſehr, als es ſammelt, und das farbenglühende Helldunkel entſpricht einer Andacht, die zu wenig Boden ſchlichten, hellen Denkens hat, um wahre Erbauung zu ſein, die vielmehr eine tiefinnerliche Aufregung iſt. 3. Ausgang. §. 594. Den Zuſtänden §. 362 ff. und der Wandlung der Phantaſie §. 464 ff. entſpricht von der einen Seite eine Ausſchweifung des gothiſchen Styls von noch geſteigerter Zierlichkeit in Willkühr, von der andern Seite das durch deutliche Vorboten einer ganz veränderten Stimmung innerhalb jener Form an- gekündigte Eindringen claſſiſchen, zunächſt römiſchen Styls, deſſen anfängliche bewegtere Miſchung mit mittelalterlichen Motiven vorerſt einer ſtrengeren Nach- ahmung weicht. Der realiſtiſcher gewordene Sinn zeigt ſich zugleich in dem Ueberwachſen der weltlichen Zweige der Baukunſt. Daß die Kühnheit und unendliche Verzierungsfälle, der maleriſche, bewegte Zug des gothiſchen Styls noch nicht Willkühr genannt, noch nicht zu den rein unbefugten Einmiſchungen der Stylgeſetze einer Kunſt in die andere geſchlagen werden darf, ſondern in jener antinomiſch ſchwebenden Weiſe aufzufaſſen iſt, wie wir es zum vorhergehenden §. bezeichnet haben, dafür liegt der ſichere Beweis in der Erſcheinung einer Stylweiſe inner- halb deſſelben, welche unzweifelhaft Willkühr iſt, die ſtructiven Geſetze entſchieden verſpottet, das Ornament augenfällig desorganiſirt, alſo im Grunde vielmehr Manier zu nennen iſt. Anfangs erſcheint dieſe Aus-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/164
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/164>, abgerufen am 28.03.2024.