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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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§. 571.

Die architehtonische Schönheit bewegt sich in allen, von §. 564 an auf-
geführten Momenten und faßt sich im Rhythmus so zusammen, daß sie ihm
das Wohlverhältniß der Eurhythmie gibt. Ueber dieselbe kann nichts Wei-
teres ausgesagt werden, als daß sie ein andeutendes Bild des Weltalls (vergl.
§. 561) als eines zur reinen Harmonie geordneten Ganzen vor Augen stellt.

Die Symmetrie kann noch nicht die Schönheit selbst sein, denn es
kommt ja erst darauf an, was sich gegenübersteht und um welchen Mit-
telpunct. Wir haben verschiedene Arten der Symmetrie angegeben, deren
jede selbst wieder ihre specielleren Verschiedenheiten zuläßt. Der tie-
fere, allgemeinere Rhythmus, der durch die Symmetrie mit seinen Takt-
schlägen greift, kann selbst verschiedener Art und in jeder Art zwar vor-
handen, aber mangelhaft entwickelt sein. Im Rhythmus nun faßt sich
schließlich das Geheimniß der architektonischen Schönheit zusammen. Er
steht selbst über der Gliederung, welche das allgemeine System der Linien
(§. 564), der Hauptrichtungen (§. 565), der Arten des Contrastes (§. 568)
und seiner Lösung (§. 569) bedingt; denn der Unterschied der Gliederung
bestimmt den Unterschied der Style, es sind aber in jedem Styl schöne
und unschöne Verhältnisse möglich; es gibt keinen Rhythmus ohne Gliede-
rung, er ist nicht denkbar außer ihr, aber von ihr noch zu unterscheiden.
Er entfaltet die Schönheit seiner Verhältnisse namentlich im Rahmen der
Oekonomie (§. 566), der Proportion (§. 567) und schließlich der Sym-
metrie, aber eben weil das innere Leben, das durch diesen Rahmen
strömt, sich nicht bei Schuh und Zoll bestimmen läßt, ist auch dieser
Rahmen ein veränderlicher, nicht zu bestimmender. Und so läßt sich denn
Weiteres schlechthin nicht aussagen, als: der Rhythmus soll schön sein.
In der That ist nicht zu fragen, warum man denn ein Näheres über
die Schönheit in der Baukunst nicht feststellen könne, sondern wie man
dazu komme, nur zu meinen, man könne es? Und die Antwort ist, daß
der Grund in der abstracten Natur dieser Kunst liegt. Keine andere
Kunst außer der Musik legt wie sie die ganze Schönheit in Messungs-
Verhältnissen nieder und da vergißt man leicht, was schon nachdrücklich
hervorgehoben ist, daß das ausgeführte Gebäude zwar nachgemessen wer-
den kann, aber von dem blos Nachmessenden darum nie erfunden wäre,
d. h. daß auch hier die freie Erfindung der Phantasie es ist, welche das
Schöne schafft. In geistiger Allgemeinheit aber läßt sich natürlich ganz
fest bestimmen, was architektonisch schön sei. Schönheit ist vollkommener
Ausdruck der Idee in der reinen Form. In der Baukunst ist die Idee
des Weltgebäudes symbolisch darzustellen und ein Gebäude ist schön, wenn

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 16
§. 571.

Die architehtoniſche Schönheit bewegt ſich in allen, von §. 564 an auf-
geführten Momenten und faßt ſich im Rhythmus ſo zuſammen, daß ſie ihm
das Wohlverhältniß der Eurhythmie gibt. Ueber dieſelbe kann nichts Wei-
teres ausgeſagt werden, als daß ſie ein andeutendes Bild des Weltalls (vergl.
§. 561) als eines zur reinen Harmonie geordneten Ganzen vor Augen ſtellt.

Die Symmetrie kann noch nicht die Schönheit ſelbſt ſein, denn es
kommt ja erſt darauf an, was ſich gegenüberſteht und um welchen Mit-
telpunct. Wir haben verſchiedene Arten der Symmetrie angegeben, deren
jede ſelbſt wieder ihre ſpecielleren Verſchiedenheiten zuläßt. Der tie-
fere, allgemeinere Rhythmus, der durch die Symmetrie mit ſeinen Takt-
ſchlägen greift, kann ſelbſt verſchiedener Art und in jeder Art zwar vor-
handen, aber mangelhaft entwickelt ſein. Im Rhythmus nun faßt ſich
ſchließlich das Geheimniß der architektoniſchen Schönheit zuſammen. Er
ſteht ſelbſt über der Gliederung, welche das allgemeine Syſtem der Linien
(§. 564), der Hauptrichtungen (§. 565), der Arten des Contraſtes (§. 568)
und ſeiner Löſung (§. 569) bedingt; denn der Unterſchied der Gliederung
beſtimmt den Unterſchied der Style, es ſind aber in jedem Styl ſchöne
und unſchöne Verhältniſſe möglich; es gibt keinen Rhythmus ohne Gliede-
rung, er iſt nicht denkbar außer ihr, aber von ihr noch zu unterſcheiden.
Er entfaltet die Schönheit ſeiner Verhältniſſe namentlich im Rahmen der
Oekonomie (§. 566), der Proportion (§. 567) und ſchließlich der Sym-
metrie, aber eben weil das innere Leben, das durch dieſen Rahmen
ſtrömt, ſich nicht bei Schuh und Zoll beſtimmen läßt, iſt auch dieſer
Rahmen ein veränderlicher, nicht zu beſtimmender. Und ſo läßt ſich denn
Weiteres ſchlechthin nicht ausſagen, als: der Rhythmus ſoll ſchön ſein.
In der That iſt nicht zu fragen, warum man denn ein Näheres über
die Schönheit in der Baukunſt nicht feſtſtellen könne, ſondern wie man
dazu komme, nur zu meinen, man könne es? Und die Antwort iſt, daß
der Grund in der abſtracten Natur dieſer Kunſt liegt. Keine andere
Kunſt außer der Muſik legt wie ſie die ganze Schönheit in Meſſungs-
Verhältniſſen nieder und da vergißt man leicht, was ſchon nachdrücklich
hervorgehoben iſt, daß das ausgeführte Gebäude zwar nachgemeſſen wer-
den kann, aber von dem blos Nachmeſſenden darum nie erfunden wäre,
d. h. daß auch hier die freie Erfindung der Phantaſie es iſt, welche das
Schöne ſchafft. In geiſtiger Allgemeinheit aber läßt ſich natürlich ganz
feſt beſtimmen, was architektoniſch ſchön ſei. Schönheit iſt vollkommener
Ausdruck der Idee in der reinen Form. In der Baukunſt iſt die Idee
des Weltgebäudes ſymboliſch darzuſtellen und ein Gebäude iſt ſchön, wenn

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 16
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[237/0077] §. 571. Die architehtoniſche Schönheit bewegt ſich in allen, von §. 564 an auf- geführten Momenten und faßt ſich im Rhythmus ſo zuſammen, daß ſie ihm das Wohlverhältniß der Eurhythmie gibt. Ueber dieſelbe kann nichts Wei- teres ausgeſagt werden, als daß ſie ein andeutendes Bild des Weltalls (vergl. §. 561) als eines zur reinen Harmonie geordneten Ganzen vor Augen ſtellt. Die Symmetrie kann noch nicht die Schönheit ſelbſt ſein, denn es kommt ja erſt darauf an, was ſich gegenüberſteht und um welchen Mit- telpunct. Wir haben verſchiedene Arten der Symmetrie angegeben, deren jede ſelbſt wieder ihre ſpecielleren Verſchiedenheiten zuläßt. Der tie- fere, allgemeinere Rhythmus, der durch die Symmetrie mit ſeinen Takt- ſchlägen greift, kann ſelbſt verſchiedener Art und in jeder Art zwar vor- handen, aber mangelhaft entwickelt ſein. Im Rhythmus nun faßt ſich ſchließlich das Geheimniß der architektoniſchen Schönheit zuſammen. Er ſteht ſelbſt über der Gliederung, welche das allgemeine Syſtem der Linien (§. 564), der Hauptrichtungen (§. 565), der Arten des Contraſtes (§. 568) und ſeiner Löſung (§. 569) bedingt; denn der Unterſchied der Gliederung beſtimmt den Unterſchied der Style, es ſind aber in jedem Styl ſchöne und unſchöne Verhältniſſe möglich; es gibt keinen Rhythmus ohne Gliede- rung, er iſt nicht denkbar außer ihr, aber von ihr noch zu unterſcheiden. Er entfaltet die Schönheit ſeiner Verhältniſſe namentlich im Rahmen der Oekonomie (§. 566), der Proportion (§. 567) und ſchließlich der Sym- metrie, aber eben weil das innere Leben, das durch dieſen Rahmen ſtrömt, ſich nicht bei Schuh und Zoll beſtimmen läßt, iſt auch dieſer Rahmen ein veränderlicher, nicht zu beſtimmender. Und ſo läßt ſich denn Weiteres ſchlechthin nicht ausſagen, als: der Rhythmus ſoll ſchön ſein. In der That iſt nicht zu fragen, warum man denn ein Näheres über die Schönheit in der Baukunſt nicht feſtſtellen könne, ſondern wie man dazu komme, nur zu meinen, man könne es? Und die Antwort iſt, daß der Grund in der abſtracten Natur dieſer Kunſt liegt. Keine andere Kunſt außer der Muſik legt wie ſie die ganze Schönheit in Meſſungs- Verhältniſſen nieder und da vergißt man leicht, was ſchon nachdrücklich hervorgehoben iſt, daß das ausgeführte Gebäude zwar nachgemeſſen wer- den kann, aber von dem blos Nachmeſſenden darum nie erfunden wäre, d. h. daß auch hier die freie Erfindung der Phantaſie es iſt, welche das Schöne ſchafft. In geiſtiger Allgemeinheit aber läßt ſich natürlich ganz feſt beſtimmen, was architektoniſch ſchön ſei. Schönheit iſt vollkommener Ausdruck der Idee in der reinen Form. In der Baukunſt iſt die Idee des Weltgebäudes ſymboliſch darzuſtellen und ein Gebäude iſt ſchön, wenn Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 16

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/77>, abgerufen am 23.04.2024.