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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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§. 616.

1.

Nach dem Grade, in welchem sich der Bildner auf die individuellen
Formen einläßt, entsteht der Gegensatz eines mehr individualisirenden
und eines mehr direct idealisirenden Styls. Dieser hält die zarte Linie der
milderen Modisication des schönen Normaltypus ein, jenem genügt es, das Ge-
diegene und Mächtige der härteren Eigenform künstlerisch noch zu erhöhen; da
jedoch durch diese Erhöhung auch die bedeutender abweichende Einzelbildung
irgendwie dem reinen Ideale nahe gerückt werden muß, so kann der Gegensatz
2.beider Style kein stark eingreifender sein. Von der individuellen Eigenheit der
Gestalt sind gewisse, über alle, auch die glücklichsten, Formen verbreitete Ein-
zelheiten, Härten, Zufälligkeiten des Naturschönen zu unterscheiden, durch deren
ungebundene Aufnahme der naturalistische Styl entsteht. Der besondere
Nachdruck, mit welchem das Wesen der Bildnerkunst empirische Formen auf
reine zurückzuführen gebietet, erlaubt jedoch auch dieser Richtung und ihrem Ge-
gensatze gegen die streng stylistrende keinen bedeutenden Spielraum.

1. Den Unterschied zwischen der individualisirenden und der natura-
listischen Richtung werden wir genauer bestimmen bei der Erörterung der
letzteren. Der individualisirende Styl ist derjenige, welcher sich weit und
tief einläßt in die Erscheinungsformen des Individuums, wie sie dessen nur
sich selbst gleiche Eigenthümlichkeit ausdrücken. Wir stehen aber nicht
mehr auf dem Boden des vorh. §.; in diesem war nur erst von dem
Stoffe die Rede, wie ihn die Bildnerkunst voraussetzt, jeder Stoff aber
muß ja in der künstlerischen Behandlung noch umgebildet, seine Formen
müssen da gestreckt, dort zusammengezogen, durchaus zum idealen Schwung
erhöht werden. Der individualisirende Künstler also ist nun zwar im
Stoffe weniger wählerisch, er läßt sich auch die unschönere Bildung ge-
fallen; aber er verlangt nicht nur im Naturvorbilde doch jene Gediegen-
heit und Mächtigkeit (§. 615), sondern, nachdem er diese Bedingung im
Stoff erfüllt sieht, wird er (zwar nicht nothwendig, denn er kann auch
zugleich Naturalist sein, wovon nachher) auch vollständig anerkennen, daß
nun erst die Künstlerhand noch das Ihrige thun muß, dieß Ganze im
Sinn des plastischen Stylgesetzes zu veredlen. Nur thut er dieß in an-
derer Weise, als derjenige, der sich eng und fest an das Prinzip der direc-
ten Idealisirung hält. Um diesen Unterschied in sein volles Licht zu setzen,
müssen wir auf einen Unterschied in den Gegenständen hinweisen, der
schon in §. 606, dann nach anderer Seite im vorh. §. kurz eingeführt
ist und freilich seine ganze Bedeutung erst in der Lehre von den Zweigen,
dann im Ueberblick über die Geschichte unserer Kunst erhalten wird: den
Unterschied der ausdrücklich idealen und der realer bestimmten Naturen.
Zu den letzteren gehört natürlich das Porträt und die geschichtliche Dar-

§. 616.

1.

Nach dem Grade, in welchem ſich der Bildner auf die individuellen
Formen einläßt, entſteht der Gegenſatz eines mehr individualiſirenden
und eines mehr direct idealiſirenden Styls. Dieſer hält die zarte Linie der
milderen Modiſication des ſchönen Normaltypus ein, jenem genügt es, das Ge-
diegene und Mächtige der härteren Eigenform künſtleriſch noch zu erhöhen; da
jedoch durch dieſe Erhöhung auch die bedeutender abweichende Einzelbildung
irgendwie dem reinen Ideale nahe gerückt werden muß, ſo kann der Gegenſatz
2.beider Style kein ſtark eingreifender ſein. Von der individuellen Eigenheit der
Geſtalt ſind gewiſſe, über alle, auch die glücklichſten, Formen verbreitete Ein-
zelheiten, Härten, Zufälligkeiten des Naturſchönen zu unterſcheiden, durch deren
ungebundene Aufnahme der naturaliſtiſche Styl entſteht. Der beſondere
Nachdruck, mit welchem das Weſen der Bildnerkunſt empiriſche Formen auf
reine zurückzuführen gebietet, erlaubt jedoch auch dieſer Richtung und ihrem Ge-
genſatze gegen die ſtreng ſtyliſtrende keinen bedeutenden Spielraum.

1. Den Unterſchied zwiſchen der individualiſirenden und der natura-
liſtiſchen Richtung werden wir genauer beſtimmen bei der Erörterung der
letzteren. Der individualiſirende Styl iſt derjenige, welcher ſich weit und
tief einläßt in die Erſcheinungsformen des Individuums, wie ſie deſſen nur
ſich ſelbſt gleiche Eigenthümlichkeit ausdrücken. Wir ſtehen aber nicht
mehr auf dem Boden des vorh. §.; in dieſem war nur erſt von dem
Stoffe die Rede, wie ihn die Bildnerkunſt vorausſetzt, jeder Stoff aber
muß ja in der künſtleriſchen Behandlung noch umgebildet, ſeine Formen
müſſen da geſtreckt, dort zuſammengezogen, durchaus zum idealen Schwung
erhöht werden. Der individualiſirende Künſtler alſo iſt nun zwar im
Stoffe weniger wähleriſch, er läßt ſich auch die unſchönere Bildung ge-
fallen; aber er verlangt nicht nur im Naturvorbilde doch jene Gediegen-
heit und Mächtigkeit (§. 615), ſondern, nachdem er dieſe Bedingung im
Stoff erfüllt ſieht, wird er (zwar nicht nothwendig, denn er kann auch
zugleich Naturaliſt ſein, wovon nachher) auch vollſtändig anerkennen, daß
nun erſt die Künſtlerhand noch das Ihrige thun muß, dieß Ganze im
Sinn des plaſtiſchen Stylgeſetzes zu veredlen. Nur thut er dieß in an-
derer Weiſe, als derjenige, der ſich eng und feſt an das Prinzip der direc-
ten Idealiſirung hält. Um dieſen Unterſchied in ſein volles Licht zu ſetzen,
müſſen wir auf einen Unterſchied in den Gegenſtänden hinweiſen, der
ſchon in §. 606, dann nach anderer Seite im vorh. §. kurz eingeführt
iſt und freilich ſeine ganze Bedeutung erſt in der Lehre von den Zweigen,
dann im Ueberblick über die Geſchichte unſerer Kunſt erhalten wird: den
Unterſchied der ausdrücklich idealen und der realer beſtimmten Naturen.
Zu den letzteren gehört natürlich das Porträt und die geſchichtliche Dar-

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[410/0084] §. 616. Nach dem Grade, in welchem ſich der Bildner auf die individuellen Formen einläßt, entſteht der Gegenſatz eines mehr individualiſirenden und eines mehr direct idealiſirenden Styls. Dieſer hält die zarte Linie der milderen Modiſication des ſchönen Normaltypus ein, jenem genügt es, das Ge- diegene und Mächtige der härteren Eigenform künſtleriſch noch zu erhöhen; da jedoch durch dieſe Erhöhung auch die bedeutender abweichende Einzelbildung irgendwie dem reinen Ideale nahe gerückt werden muß, ſo kann der Gegenſatz beider Style kein ſtark eingreifender ſein. Von der individuellen Eigenheit der Geſtalt ſind gewiſſe, über alle, auch die glücklichſten, Formen verbreitete Ein- zelheiten, Härten, Zufälligkeiten des Naturſchönen zu unterſcheiden, durch deren ungebundene Aufnahme der naturaliſtiſche Styl entſteht. Der beſondere Nachdruck, mit welchem das Weſen der Bildnerkunſt empiriſche Formen auf reine zurückzuführen gebietet, erlaubt jedoch auch dieſer Richtung und ihrem Ge- genſatze gegen die ſtreng ſtyliſtrende keinen bedeutenden Spielraum. 1. Den Unterſchied zwiſchen der individualiſirenden und der natura- liſtiſchen Richtung werden wir genauer beſtimmen bei der Erörterung der letzteren. Der individualiſirende Styl iſt derjenige, welcher ſich weit und tief einläßt in die Erſcheinungsformen des Individuums, wie ſie deſſen nur ſich ſelbſt gleiche Eigenthümlichkeit ausdrücken. Wir ſtehen aber nicht mehr auf dem Boden des vorh. §.; in dieſem war nur erſt von dem Stoffe die Rede, wie ihn die Bildnerkunſt vorausſetzt, jeder Stoff aber muß ja in der künſtleriſchen Behandlung noch umgebildet, ſeine Formen müſſen da geſtreckt, dort zuſammengezogen, durchaus zum idealen Schwung erhöht werden. Der individualiſirende Künſtler alſo iſt nun zwar im Stoffe weniger wähleriſch, er läßt ſich auch die unſchönere Bildung ge- fallen; aber er verlangt nicht nur im Naturvorbilde doch jene Gediegen- heit und Mächtigkeit (§. 615), ſondern, nachdem er dieſe Bedingung im Stoff erfüllt ſieht, wird er (zwar nicht nothwendig, denn er kann auch zugleich Naturaliſt ſein, wovon nachher) auch vollſtändig anerkennen, daß nun erſt die Künſtlerhand noch das Ihrige thun muß, dieß Ganze im Sinn des plaſtiſchen Stylgeſetzes zu veredlen. Nur thut er dieß in an- derer Weiſe, als derjenige, der ſich eng und feſt an das Prinzip der direc- ten Idealiſirung hält. Um dieſen Unterſchied in ſein volles Licht zu ſetzen, müſſen wir auf einen Unterſchied in den Gegenſtänden hinweiſen, der ſchon in §. 606, dann nach anderer Seite im vorh. §. kurz eingeführt iſt und freilich ſeine ganze Bedeutung erſt in der Lehre von den Zweigen, dann im Ueberblick über die Geſchichte unſerer Kunſt erhalten wird: den Unterſchied der ausdrücklich idealen und der realer beſtimmten Naturen. Zu den letzteren gehört natürlich das Porträt und die geſchichtliche Dar-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/84>, abgerufen am 29.03.2024.