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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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des Naturalismus und der strengen Stylisirung in der Darstellung von
Thieren. In Bewegungen, Formen, Behandlung des Fells, der Mäh-
nen u. s. w. kann der eine Künstler dem Wurfe des unmittelbaren Natur-
lebens so nahe, als möglich, treten, der andere in gemessenerer Ausschei-
dung des Einzelnen und Zufälligen bis zu einer architektonischen Bindung
der Formen fortgehen, die sich der ornamentartig geometrisirten Behand-
lung der Thiere im Wappen nähert, aber auch der erste kann und darf nie in
die Einzelheiten der Naturzüge sich so weit einlassen, als Maler oder Dichter.

§. 617.

In der Behandlung der Grundverhältnisse der Gestalt, wie sie im
Knochengerüste gegeben sind, muß die Bildnerkunst gemäß ihrem Stylgesetze ein
strengeres Durchschnittsmaaß einhalten, als die Natur; darin macht sich deutlich
die Verwandtschaft des tastenden Sehens mit dem messenden (§. 599), ein An-
klang der Proportions- und Symmetrie-Gesetze der Baukunst geltend.

Hier ist es, wo der in §. 599 aufgestellte Satz von einer Grund-
lage eigentlichen Messens im tastenden Sehen an die Reihe der näheren
Beleuchtung kommt: dieselbe macht sich geltend in der Behandlung der
Proportionen, zu der wir nun übergehen, nachdem die Auffassung der
Gestalt im Ganzen und Allgemeinen besprochen ist. Die menschliche Ge-
stalt ist an sich ein organischer Bau, das feste, harte Knochengerüste seine
Kernform. Diese Kernform steigt in den zwei symmetrischen Säulen der
Beine auf, die sich dann zum Becken ausbreiten, von hier schießt die
Rückenwirbelsäule empor, wölbt den Korb der Brustrippen an ihren Sei-
ten heraus, treibt ebenso symmetrisch das zweite große Paar von Bewe-
gungs-Organen, die Arme, mit den Schulterblättern seitlich hervor und
schließt sich, in den Halswirbeln fortgesetzt, im Kopfe, zur Kugel ausge-
rundet, ab, oder umgekehrt (vergl. zu §. 564, 1. S. 220): das Haupt
läßt diesen ganzen Bau als Realisirung der in ihm vereinigten organischen
Zwecke ausstrahlen. Es ist dieß im Großen und Ganzen, noch mehr,
wenn man die Theile in ihre weitere Gliederung verfolgt, ein völlig rhyth-
misches Gebilde, das in zählbaren Takten sich ansammelt, ausbreitet und
wieder sammelt (vergl. zu §. 500, 2., auch Winkelmann über die Drei-
zahl a. a. O. Bd. 2, S. 165. 166). Durch dieß rhythmische Leben, das,
im Knochengerüste begründet, am Ganzen des Körperbaus mit seinen Ab-
sätzen und Einschnitten zu Tage tritt, sind nun die Proportionen wirklich
die erste, noch abstracte Grundlage der Schönheit der Composition in
Darstellung der einzelnen Gestalt; diese Seite fassen wir aber hier noch
nicht weiter auf, sondern die Nothwendigkeit des wirklichen Messens, noch
nicht die Poesie daran, welche die Griechen durch Ruthmos ausdrückten, son-

des Naturaliſmus und der ſtrengen Styliſirung in der Darſtellung von
Thieren. In Bewegungen, Formen, Behandlung des Fells, der Mäh-
nen u. ſ. w. kann der eine Künſtler dem Wurfe des unmittelbaren Natur-
lebens ſo nahe, als möglich, treten, der andere in gemeſſenerer Ausſchei-
dung des Einzelnen und Zufälligen bis zu einer architektoniſchen Bindung
der Formen fortgehen, die ſich der ornamentartig geometriſirten Behand-
lung der Thiere im Wappen nähert, aber auch der erſte kann und darf nie in
die Einzelheiten der Naturzüge ſich ſo weit einlaſſen, als Maler oder Dichter.

§. 617.

In der Behandlung der Grundverhältniſſe der Geſtalt, wie ſie im
Knochengerüſte gegeben ſind, muß die Bildnerkunſt gemäß ihrem Stylgeſetze ein
ſtrengeres Durchſchnittsmaaß einhalten, als die Natur; darin macht ſich deutlich
die Verwandtſchaft des taſtenden Sehens mit dem meſſenden (§. 599), ein An-
klang der Proportions- und Symmetrie-Geſetze der Baukunſt geltend.

Hier iſt es, wo der in §. 599 aufgeſtellte Satz von einer Grund-
lage eigentlichen Meſſens im taſtenden Sehen an die Reihe der näheren
Beleuchtung kommt: dieſelbe macht ſich geltend in der Behandlung der
Proportionen, zu der wir nun übergehen, nachdem die Auffaſſung der
Geſtalt im Ganzen und Allgemeinen beſprochen iſt. Die menſchliche Ge-
ſtalt iſt an ſich ein organiſcher Bau, das feſte, harte Knochengerüſte ſeine
Kernform. Dieſe Kernform ſteigt in den zwei ſymmetriſchen Säulen der
Beine auf, die ſich dann zum Becken ausbreiten, von hier ſchießt die
Rückenwirbelſäule empor, wölbt den Korb der Bruſtrippen an ihren Sei-
ten heraus, treibt ebenſo ſymmetriſch das zweite große Paar von Bewe-
gungs-Organen, die Arme, mit den Schulterblättern ſeitlich hervor und
ſchließt ſich, in den Halswirbeln fortgeſetzt, im Kopfe, zur Kugel ausge-
rundet, ab, oder umgekehrt (vergl. zu §. 564, 1. S. 220): das Haupt
läßt dieſen ganzen Bau als Realiſirung der in ihm vereinigten organiſchen
Zwecke ausſtrahlen. Es iſt dieß im Großen und Ganzen, noch mehr,
wenn man die Theile in ihre weitere Gliederung verfolgt, ein völlig rhyth-
miſches Gebilde, das in zählbaren Takten ſich anſammelt, ausbreitet und
wieder ſammelt (vergl. zu §. 500, 2., auch Winkelmann über die Drei-
zahl a. a. O. Bd. 2, S. 165. 166). Durch dieß rhythmiſche Leben, das,
im Knochengerüſte begründet, am Ganzen des Körperbaus mit ſeinen Ab-
ſätzen und Einſchnitten zu Tage tritt, ſind nun die Proportionen wirklich
die erſte, noch abſtracte Grundlage der Schönheit der Compoſition in
Darſtellung der einzelnen Geſtalt; dieſe Seite faſſen wir aber hier noch
nicht weiter auf, ſondern die Nothwendigkeit des wirklichen Meſſens, noch
nicht die Poeſie daran, welche die Griechen durch ῥυϑμὸς ausdrückten, ſon-

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[414/0088] des Naturaliſmus und der ſtrengen Styliſirung in der Darſtellung von Thieren. In Bewegungen, Formen, Behandlung des Fells, der Mäh- nen u. ſ. w. kann der eine Künſtler dem Wurfe des unmittelbaren Natur- lebens ſo nahe, als möglich, treten, der andere in gemeſſenerer Ausſchei- dung des Einzelnen und Zufälligen bis zu einer architektoniſchen Bindung der Formen fortgehen, die ſich der ornamentartig geometriſirten Behand- lung der Thiere im Wappen nähert, aber auch der erſte kann und darf nie in die Einzelheiten der Naturzüge ſich ſo weit einlaſſen, als Maler oder Dichter. §. 617. In der Behandlung der Grundverhältniſſe der Geſtalt, wie ſie im Knochengerüſte gegeben ſind, muß die Bildnerkunſt gemäß ihrem Stylgeſetze ein ſtrengeres Durchſchnittsmaaß einhalten, als die Natur; darin macht ſich deutlich die Verwandtſchaft des taſtenden Sehens mit dem meſſenden (§. 599), ein An- klang der Proportions- und Symmetrie-Geſetze der Baukunſt geltend. Hier iſt es, wo der in §. 599 aufgeſtellte Satz von einer Grund- lage eigentlichen Meſſens im taſtenden Sehen an die Reihe der näheren Beleuchtung kommt: dieſelbe macht ſich geltend in der Behandlung der Proportionen, zu der wir nun übergehen, nachdem die Auffaſſung der Geſtalt im Ganzen und Allgemeinen beſprochen iſt. Die menſchliche Ge- ſtalt iſt an ſich ein organiſcher Bau, das feſte, harte Knochengerüſte ſeine Kernform. Dieſe Kernform ſteigt in den zwei ſymmetriſchen Säulen der Beine auf, die ſich dann zum Becken ausbreiten, von hier ſchießt die Rückenwirbelſäule empor, wölbt den Korb der Bruſtrippen an ihren Sei- ten heraus, treibt ebenſo ſymmetriſch das zweite große Paar von Bewe- gungs-Organen, die Arme, mit den Schulterblättern ſeitlich hervor und ſchließt ſich, in den Halswirbeln fortgeſetzt, im Kopfe, zur Kugel ausge- rundet, ab, oder umgekehrt (vergl. zu §. 564, 1. S. 220): das Haupt läßt dieſen ganzen Bau als Realiſirung der in ihm vereinigten organiſchen Zwecke ausſtrahlen. Es iſt dieß im Großen und Ganzen, noch mehr, wenn man die Theile in ihre weitere Gliederung verfolgt, ein völlig rhyth- miſches Gebilde, das in zählbaren Takten ſich anſammelt, ausbreitet und wieder ſammelt (vergl. zu §. 500, 2., auch Winkelmann über die Drei- zahl a. a. O. Bd. 2, S. 165. 166). Durch dieß rhythmiſche Leben, das, im Knochengerüſte begründet, am Ganzen des Körperbaus mit ſeinen Ab- ſätzen und Einſchnitten zu Tage tritt, ſind nun die Proportionen wirklich die erſte, noch abſtracte Grundlage der Schönheit der Compoſition in Darſtellung der einzelnen Geſtalt; dieſe Seite faſſen wir aber hier noch nicht weiter auf, ſondern die Nothwendigkeit des wirklichen Meſſens, noch nicht die Poeſie daran, welche die Griechen durch ῥυϑμὸς ausdrückten, ſon-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/88>, abgerufen am 19.04.2024.