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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Sopholles kann uns keinen Falstaff geben, wohl aber Shakespeare. Nur
bei dem großartig Bösen beginnt wieder Gemeinschaft des Stoffes für
beide Stylrichtungen. -- Schließlich noch ein Wort über die Frage, wie
sich denn die Forderung, daß der Charakter Mittelpunct und Spitze der
malerischen Aufgabe sei, zu der Verschiedenheit der Zweige verhalte, da
der Maler doch nicht immer und überall Charakter darstellen kann. Die
Antwort ist: wir werden vorerst nur überhaupt verlangen, daß es der
Malerei in keiner Epoche an der Ausbildung der Zweige fehle, wo der
intensive Charakter-Ausdruck seine Stelle findet: an kräftigem Anbau der
Historienmaleri, des höheren, ernsten Genre, einer tüchtigen, gediegenen
Porträtmalerei; das leichte, komische Genre, die verschiedenen Uebergänge
zwischen diesem und der Historie mögen dann die kleinere, gemeinere,
ungebundenere, grillenhaftere Charakterwelt mit freiem Humor ausbeuten.
Ob derselbe Künstler sowohl des einen, als auch des andern Gebiets
mächtig ist, davon kann ganz abgesehen werden, wenn nur die Kunst
überhaupt außer einem Zeuxis, dem Aristoteles das Ethos abspricht,
auch ihren Polygnot aufzuweisen hat, den er Ethographos nennt. Der
Verfall ist da, wenn der plastische Styl, zum Formalismus herabgekom-
men, jede Härte und Ecke zur süßen Welle abrundet und von einem Colo-
rit unterstützt wird, das jedes Mark der lebensvollen Mischung im lauen
Reize sanfter Mitteltöne oder im abstracten Effecte ungebrochener Haupt-
farben auslöscht. Daß freilich auch die leichteren Gebiete, welchen nicht
direct die intensive Charakterdarstellung zuzumuthen ist, in einem gewissen
Sinne Charakter haben müssen, dieß bedarf nach Allem, was vom Styl
überhaupt und insbesondere von der Wechselwirkung der zwei Stylrich-
tungen gesagt ist, keiner weiteren Ausführung. Das Charakterlose soll
nicht charakterlos, das Windige soll nicht windig dargestellt werden.
Auch die Landschaft soll charaktervoll sein; der Unterschied der Style in
diesem Gebiete verhält sich zum Begriffe des Charakters nur ebenso wie
in der eigentlichen Darstellung desselben Plastik und Malerei.

§. 686.

In der malerischen Composition wird dem Prinzip der linearen Glie-
derung die Einfachheit der Geltung entzogen durch die Wirkungen der mitdar-
gestellten Umgebung, der Perspective, namentlich aber des Lichts und der Farbe:
das Gemälde ist ebensowohl eine Licht- und Farben-Einheit, als eine
Linien-Einheit. Das ästhetische Gewicht kann mehr auf der ersten oder zweiten
liegen, aber auch im letzteren Falle, wo entweder auf die Gegenstände über-
haupt oder auf die Schönheit ihrer Formen verglichen mit dem Werthe der all-

Sopholles kann uns keinen Falſtaff geben, wohl aber Shakespeare. Nur
bei dem großartig Böſen beginnt wieder Gemeinſchaft des Stoffes für
beide Stylrichtungen. — Schließlich noch ein Wort über die Frage, wie
ſich denn die Forderung, daß der Charakter Mittelpunct und Spitze der
maleriſchen Aufgabe ſei, zu der Verſchiedenheit der Zweige verhalte, da
der Maler doch nicht immer und überall Charakter darſtellen kann. Die
Antwort iſt: wir werden vorerſt nur überhaupt verlangen, daß es der
Malerei in keiner Epoche an der Ausbildung der Zweige fehle, wo der
intenſive Charakter-Ausdruck ſeine Stelle findet: an kräftigem Anbau der
Hiſtorienmaleri, des höheren, ernſten Genre, einer tüchtigen, gediegenen
Porträtmalerei; das leichte, komiſche Genre, die verſchiedenen Uebergänge
zwiſchen dieſem und der Hiſtorie mögen dann die kleinere, gemeinere,
ungebundenere, grillenhaftere Charakterwelt mit freiem Humor ausbeuten.
Ob derſelbe Künſtler ſowohl des einen, als auch des andern Gebiets
mächtig iſt, davon kann ganz abgeſehen werden, wenn nur die Kunſt
überhaupt außer einem Zeuxis, dem Ariſtoteles das Ethos abſpricht,
auch ihren Polygnot aufzuweiſen hat, den er Ethographos nennt. Der
Verfall iſt da, wenn der plaſtiſche Styl, zum Formaliſmus herabgekom-
men, jede Härte und Ecke zur ſüßen Welle abrundet und von einem Colo-
rit unterſtützt wird, das jedes Mark der lebensvollen Miſchung im lauen
Reize ſanfter Mitteltöne oder im abſtracten Effecte ungebrochener Haupt-
farben auslöſcht. Daß freilich auch die leichteren Gebiete, welchen nicht
direct die intenſive Charakterdarſtellung zuzumuthen iſt, in einem gewiſſen
Sinne Charakter haben müſſen, dieß bedarf nach Allem, was vom Styl
überhaupt und insbeſondere von der Wechſelwirkung der zwei Stylrich-
tungen geſagt iſt, keiner weiteren Ausführung. Das Charakterloſe ſoll
nicht charakterlos, das Windige ſoll nicht windig dargeſtellt werden.
Auch die Landſchaft ſoll charaktervoll ſein; der Unterſchied der Style in
dieſem Gebiete verhält ſich zum Begriffe des Charakters nur ebenſo wie
in der eigentlichen Darſtellung deſſelben Plaſtik und Malerei.

§. 686.

In der maleriſchen Compoſition wird dem Prinzip der linearen Glie-
derung die Einfachheit der Geltung entzogen durch die Wirkungen der mitdar-
geſtellten Umgebung, der Perſpective, namentlich aber des Lichts und der Farbe:
das Gemälde iſt ebenſowohl eine Licht- und Farben-Einheit, als eine
Linien-Einheit. Das äſthetiſche Gewicht kann mehr auf der erſten oder zweiten
liegen, aber auch im letzteren Falle, wo entweder auf die Gegenſtände über-
haupt oder auf die Schönheit ihrer Formen verglichen mit dem Werthe der all-

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[609/0117] Sopholles kann uns keinen Falſtaff geben, wohl aber Shakespeare. Nur bei dem großartig Böſen beginnt wieder Gemeinſchaft des Stoffes für beide Stylrichtungen. — Schließlich noch ein Wort über die Frage, wie ſich denn die Forderung, daß der Charakter Mittelpunct und Spitze der maleriſchen Aufgabe ſei, zu der Verſchiedenheit der Zweige verhalte, da der Maler doch nicht immer und überall Charakter darſtellen kann. Die Antwort iſt: wir werden vorerſt nur überhaupt verlangen, daß es der Malerei in keiner Epoche an der Ausbildung der Zweige fehle, wo der intenſive Charakter-Ausdruck ſeine Stelle findet: an kräftigem Anbau der Hiſtorienmaleri, des höheren, ernſten Genre, einer tüchtigen, gediegenen Porträtmalerei; das leichte, komiſche Genre, die verſchiedenen Uebergänge zwiſchen dieſem und der Hiſtorie mögen dann die kleinere, gemeinere, ungebundenere, grillenhaftere Charakterwelt mit freiem Humor ausbeuten. Ob derſelbe Künſtler ſowohl des einen, als auch des andern Gebiets mächtig iſt, davon kann ganz abgeſehen werden, wenn nur die Kunſt überhaupt außer einem Zeuxis, dem Ariſtoteles das Ethos abſpricht, auch ihren Polygnot aufzuweiſen hat, den er Ethographos nennt. Der Verfall iſt da, wenn der plaſtiſche Styl, zum Formaliſmus herabgekom- men, jede Härte und Ecke zur ſüßen Welle abrundet und von einem Colo- rit unterſtützt wird, das jedes Mark der lebensvollen Miſchung im lauen Reize ſanfter Mitteltöne oder im abſtracten Effecte ungebrochener Haupt- farben auslöſcht. Daß freilich auch die leichteren Gebiete, welchen nicht direct die intenſive Charakterdarſtellung zuzumuthen iſt, in einem gewiſſen Sinne Charakter haben müſſen, dieß bedarf nach Allem, was vom Styl überhaupt und insbeſondere von der Wechſelwirkung der zwei Stylrich- tungen geſagt iſt, keiner weiteren Ausführung. Das Charakterloſe ſoll nicht charakterlos, das Windige ſoll nicht windig dargeſtellt werden. Auch die Landſchaft ſoll charaktervoll ſein; der Unterſchied der Style in dieſem Gebiete verhält ſich zum Begriffe des Charakters nur ebenſo wie in der eigentlichen Darſtellung deſſelben Plaſtik und Malerei. §. 686. In der maleriſchen Compoſition wird dem Prinzip der linearen Glie- derung die Einfachheit der Geltung entzogen durch die Wirkungen der mitdar- geſtellten Umgebung, der Perſpective, namentlich aber des Lichts und der Farbe: das Gemälde iſt ebenſowohl eine Licht- und Farben-Einheit, als eine Linien-Einheit. Das äſthetiſche Gewicht kann mehr auf der erſten oder zweiten liegen, aber auch im letzteren Falle, wo entweder auf die Gegenſtände über- haupt oder auf die Schönheit ihrer Formen verglichen mit dem Werthe der all-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/117>, abgerufen am 28.03.2024.