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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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noch abgesehen von der Farbe, abzunehmen, den Schein von Licht und
Schatten durch künstlich nachahmende Mittel hervorzubringen. Der Umriß
verliert bereits von seiner Selbständigkeit, bleibt aber als solcher noch sicht-
bar. Es kann dieser Theil des Verfahrens allerdings zugleich mit der
Farbengebung vorgenommen werden, aber wir halten die in der Vorschule
des künftigen Malers ohnedieß jedenfalls nothwendige Trennung dieser
beiden Momente in ihrer Schärfe ein, um deutlich hervortreten zu lassen,
was weiterhin noch aufzunehmen ist: daß bis zu diesem Puncte die Ma-
lerei noch eine auf die Fläche übersetzte Plastik ist, wie denn der §. ge-
gen den Schluß es bereits ausspricht, daß diese Kunst in jener als Mo-
ment enthalten sei. Nun erst folgt die Farbengebung und vertilgt vollends
den Umriß: dieser hat das Seinige gethan, dem Maler die Grenze an-
gegeben, bis an welche er die Farbe mit Licht und Schatten herauszuführen
habe, er kann nun gehen. Im Orient gieng er nicht; die Umrisse wurden
mit einfachen Farben ausgefüllt. Hiemit blieb auch der Träger des Ge-
mäldes, die Fläche, in Geltung; man vergaß sie nicht, wie man soll,
über einem vollständigen Scheine des Daseins, der ja erst erreicht wird,
wenn die Farbe mit allen Mitteln der Kunst wirkt. Es geht nun aber,
wo die Malerei ihr ganzes Wesen zur Ausbildung gebracht, die Farbe,
und mit ihr selbst Licht und Schatten, viel weiter, als nur bis zur tota-
len Füllung der durch Umrisse bestimmbaren organisch geschlossenen Ge-
stalt: die malerische Anschauung hat ja (vergl. §. 648) Vieles mitauf-
genommen, was nicht individualisirte Gestalt hat, die Nachahmung der
allgemeinen Medien hebt also den Umriß nicht nur dadurch auf, daß sie
ausfüllt, was er umschreibt, sondern schwebt über ihn hinaus in's Weite
und Unbestimmte, was durch gar keinen Umriß vorher bestimmt werden
konnte. Es wird weiterhin in volles Licht treten, daß die Farbe noch
mehr durch dieß Uebergießen, "Ueberziehen", wie der §. es zunächst
nennt, als durch jenes Ausfüllen den Theil der Malerei hinter sich
läßt, welcher noch mit der Bildnerkunst verwandt ist. Der An-
schauende hat nun ein volles Bild vor sich, seine Phantasie nimmt es
auf, erzeugt es nach, aber das Kunstwerk gibt ihm dazu mehr, als den
bloßen Anhalt, den der Umriß darbot, es ist ein ganzer, ein erschöpfender
Schein, der Gegenstand ist im Scheine vollständig da.

2. Der weitere Inhalt des §. zeigt nun ebenfalls rein äußerlich die
Freiheit und Weite auf, worin sich durch diese Art ihrer Darstellung die
Malerei gegenüber der Plastik bewegt; diesen Gewinn in seiner inhalts-
volleren Bedeutung zu fassen ist dem Folgenden vorbehalten. Daß, un-
beschadet untergeordneter technischer Wichtigkeit derselben, die Materie der
Fläche, auf welche das Kunstwerk aufgetragen ist, mit diesem nichts zu
schaffen hat, ist in der Bemerkung über die orientalische Umrißfärbung

noch abgeſehen von der Farbe, abzunehmen, den Schein von Licht und
Schatten durch künſtlich nachahmende Mittel hervorzubringen. Der Umriß
verliert bereits von ſeiner Selbſtändigkeit, bleibt aber als ſolcher noch ſicht-
bar. Es kann dieſer Theil des Verfahrens allerdings zugleich mit der
Farbengebung vorgenommen werden, aber wir halten die in der Vorſchule
des künftigen Malers ohnedieß jedenfalls nothwendige Trennung dieſer
beiden Momente in ihrer Schärfe ein, um deutlich hervortreten zu laſſen,
was weiterhin noch aufzunehmen iſt: daß bis zu dieſem Puncte die Ma-
lerei noch eine auf die Fläche überſetzte Plaſtik iſt, wie denn der §. ge-
gen den Schluß es bereits ausſpricht, daß dieſe Kunſt in jener als Mo-
ment enthalten ſei. Nun erſt folgt die Farbengebung und vertilgt vollends
den Umriß: dieſer hat das Seinige gethan, dem Maler die Grenze an-
gegeben, bis an welche er die Farbe mit Licht und Schatten herauszuführen
habe, er kann nun gehen. Im Orient gieng er nicht; die Umriſſe wurden
mit einfachen Farben ausgefüllt. Hiemit blieb auch der Träger des Ge-
mäldes, die Fläche, in Geltung; man vergaß ſie nicht, wie man ſoll,
über einem vollſtändigen Scheine des Daſeins, der ja erſt erreicht wird,
wenn die Farbe mit allen Mitteln der Kunſt wirkt. Es geht nun aber,
wo die Malerei ihr ganzes Weſen zur Ausbildung gebracht, die Farbe,
und mit ihr ſelbſt Licht und Schatten, viel weiter, als nur bis zur tota-
len Füllung der durch Umriſſe beſtimmbaren organiſch geſchloſſenen Ge-
ſtalt: die maleriſche Anſchauung hat ja (vergl. §. 648) Vieles mitauf-
genommen, was nicht individualiſirte Geſtalt hat, die Nachahmung der
allgemeinen Medien hebt alſo den Umriß nicht nur dadurch auf, daß ſie
ausfüllt, was er umſchreibt, ſondern ſchwebt über ihn hinaus in’s Weite
und Unbeſtimmte, was durch gar keinen Umriß vorher beſtimmt werden
konnte. Es wird weiterhin in volles Licht treten, daß die Farbe noch
mehr durch dieß Uebergießen, „Ueberziehen“, wie der §. es zunächſt
nennt, als durch jenes Ausfüllen den Theil der Malerei hinter ſich
läßt, welcher noch mit der Bildnerkunſt verwandt iſt. Der An-
ſchauende hat nun ein volles Bild vor ſich, ſeine Phantaſie nimmt es
auf, erzeugt es nach, aber das Kunſtwerk gibt ihm dazu mehr, als den
bloßen Anhalt, den der Umriß darbot, es iſt ein ganzer, ein erſchöpfender
Schein, der Gegenſtand iſt im Scheine vollſtändig da.

2. Der weitere Inhalt des §. zeigt nun ebenfalls rein äußerlich die
Freiheit und Weite auf, worin ſich durch dieſe Art ihrer Darſtellung die
Malerei gegenüber der Plaſtik bewegt; dieſen Gewinn in ſeiner inhalts-
volleren Bedeutung zu faſſen iſt dem Folgenden vorbehalten. Daß, un-
beſchadet untergeordneter techniſcher Wichtigkeit derſelben, die Materie der
Fläche, auf welche das Kunſtwerk aufgetragen iſt, mit dieſem nichts zu
ſchaffen hat, iſt in der Bemerkung über die orientaliſche Umrißfärbung

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[511/0019] noch abgeſehen von der Farbe, abzunehmen, den Schein von Licht und Schatten durch künſtlich nachahmende Mittel hervorzubringen. Der Umriß verliert bereits von ſeiner Selbſtändigkeit, bleibt aber als ſolcher noch ſicht- bar. Es kann dieſer Theil des Verfahrens allerdings zugleich mit der Farbengebung vorgenommen werden, aber wir halten die in der Vorſchule des künftigen Malers ohnedieß jedenfalls nothwendige Trennung dieſer beiden Momente in ihrer Schärfe ein, um deutlich hervortreten zu laſſen, was weiterhin noch aufzunehmen iſt: daß bis zu dieſem Puncte die Ma- lerei noch eine auf die Fläche überſetzte Plaſtik iſt, wie denn der §. ge- gen den Schluß es bereits ausſpricht, daß dieſe Kunſt in jener als Mo- ment enthalten ſei. Nun erſt folgt die Farbengebung und vertilgt vollends den Umriß: dieſer hat das Seinige gethan, dem Maler die Grenze an- gegeben, bis an welche er die Farbe mit Licht und Schatten herauszuführen habe, er kann nun gehen. Im Orient gieng er nicht; die Umriſſe wurden mit einfachen Farben ausgefüllt. Hiemit blieb auch der Träger des Ge- mäldes, die Fläche, in Geltung; man vergaß ſie nicht, wie man ſoll, über einem vollſtändigen Scheine des Daſeins, der ja erſt erreicht wird, wenn die Farbe mit allen Mitteln der Kunſt wirkt. Es geht nun aber, wo die Malerei ihr ganzes Weſen zur Ausbildung gebracht, die Farbe, und mit ihr ſelbſt Licht und Schatten, viel weiter, als nur bis zur tota- len Füllung der durch Umriſſe beſtimmbaren organiſch geſchloſſenen Ge- ſtalt: die maleriſche Anſchauung hat ja (vergl. §. 648) Vieles mitauf- genommen, was nicht individualiſirte Geſtalt hat, die Nachahmung der allgemeinen Medien hebt alſo den Umriß nicht nur dadurch auf, daß ſie ausfüllt, was er umſchreibt, ſondern ſchwebt über ihn hinaus in’s Weite und Unbeſtimmte, was durch gar keinen Umriß vorher beſtimmt werden konnte. Es wird weiterhin in volles Licht treten, daß die Farbe noch mehr durch dieß Uebergießen, „Ueberziehen“, wie der §. es zunächſt nennt, als durch jenes Ausfüllen den Theil der Malerei hinter ſich läßt, welcher noch mit der Bildnerkunſt verwandt iſt. Der An- ſchauende hat nun ein volles Bild vor ſich, ſeine Phantaſie nimmt es auf, erzeugt es nach, aber das Kunſtwerk gibt ihm dazu mehr, als den bloßen Anhalt, den der Umriß darbot, es iſt ein ganzer, ein erſchöpfender Schein, der Gegenſtand iſt im Scheine vollſtändig da. 2. Der weitere Inhalt des §. zeigt nun ebenfalls rein äußerlich die Freiheit und Weite auf, worin ſich durch dieſe Art ihrer Darſtellung die Malerei gegenüber der Plaſtik bewegt; dieſen Gewinn in ſeiner inhalts- volleren Bedeutung zu faſſen iſt dem Folgenden vorbehalten. Daß, un- beſchadet untergeordneter techniſcher Wichtigkeit derſelben, die Materie der Fläche, auf welche das Kunſtwerk aufgetragen iſt, mit dieſem nichts zu ſchaffen hat, iſt in der Bemerkung über die orientaliſche Umrißfärbung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/19>, abgerufen am 29.03.2024.