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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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reinen Existenz gelange, und so bleibt denn nur übrig, daß jener als
Motiv, und zwar jetzt in einem viel loseren, dürftigeren Sinn, als früher,
nämlich als bloßes Vehikel (§. 465), als Haken diene, um dieß höhere
Sittenbild daran zu hängen. Zu dieser unwürdigen Stellung kommt es
bei dem würdigsten Bestreben, wenn die zwei Stoffwelten den Widerspruch
des gleichzeitigen Fortbestands behaupten. So muß denn eine Findung
Mosis, eine Anwesenheit Christi bei dem Gastmahle des Levi, bei der
Hochzeit zu Kana die Gelegenheit geben, die Pracht Venedigs, die Würde
der Männer und die Schönheit der Frauen, die Pracht der Gewänder,
Geräthe, Bedienung, Begleitung, Architektur in ihrem Glanz auszubreiten;
nach Moses fragt man nicht, Christus selbst und sein Wunder werden
kaum bemerkt. Uebrigens sind es auch die h. Familien und die sog. h.
Conversationen, wo insbesondere jene herrlichen Männergestalten, die wir
als Hauptstärke des italienischen Styls öfters hervorgehoben, ihre Stelle
finden, und zwar schon bei den Bellini und den andern früheren Meistern.

Auch diese Blüthe welkt. Von Giorgiones Goldgluth der Localfarbe
ist Titian zu der feineren Welt der Uebergänge, Brechungen, Töne,
Paolo Veronese zum höchsten Rhythmus eines Farbenganzen bei vollen-
deter Nachbildung des Einzelnen, der Gewandstoffe u. s. w. fortgeschritten,
Tintoretto zieht die Bravour M. Angelo's in der Zeichnung zu einer durch
Beleuchtungs- und Schatten-Effecte sich selbst verdunkelnden Farbenfertig-
keit herbei und mit Bassano sinkt diese Kunstwelt an der Schwelle des
ländlichen Sittenbildes schwunglos zu Boden.

2. Der deutsche Styl.
§. 726.

Die deutsche Nation übernimmt vermöge ihrer geistigen Anlage die
Ausbildung des ächt malerischen Styls, löst jedoch ihre Aufgabe während
dieser ganzen Periode in unvollkommener Weise, indem zwischen dem Ausdruck
tiefer Innerlichkeit und der nationalen Schärfe in Auffassung der Individualität,
der liebevollen Aufnahme der Umgebung eine Härte und Unbewegtheit der Form
stehen bleibt, welche wesentlich als Mangel an Plastik, aber in gewissem Sinn
auch als eine falsche Plastik erscheint, die der früh entwickelten Farben-
schönheit
nicht erlaubt, sich nach allen Beziehungen geltend zu machen. Da-
her fehlt auch die Schutzwehr gegen den Abfall aus malerisch begründetem in
unästhetischen Naturalismus. Der Bildungstrieb, der sich nicht in jene Mitte
zwischen Inhalt und Form zu legen vermag, wächst als phantastischer Humor
und reiches Ornamentspiel aus.


reinen Exiſtenz gelange, und ſo bleibt denn nur übrig, daß jener als
Motiv, und zwar jetzt in einem viel loſeren, dürftigeren Sinn, als früher,
nämlich als bloßes Vehikel (§. 465), als Haken diene, um dieß höhere
Sittenbild daran zu hängen. Zu dieſer unwürdigen Stellung kommt es
bei dem würdigſten Beſtreben, wenn die zwei Stoffwelten den Widerſpruch
des gleichzeitigen Fortbeſtands behaupten. So muß denn eine Findung
Moſis, eine Anweſenheit Chriſti bei dem Gaſtmahle des Levi, bei der
Hochzeit zu Kana die Gelegenheit geben, die Pracht Venedigs, die Würde
der Männer und die Schönheit der Frauen, die Pracht der Gewänder,
Geräthe, Bedienung, Begleitung, Architektur in ihrem Glanz auszubreiten;
nach Moſes fragt man nicht, Chriſtus ſelbſt und ſein Wunder werden
kaum bemerkt. Uebrigens ſind es auch die h. Familien und die ſog. h.
Converſationen, wo insbeſondere jene herrlichen Männergeſtalten, die wir
als Hauptſtärke des italieniſchen Styls öfters hervorgehoben, ihre Stelle
finden, und zwar ſchon bei den Bellini und den andern früheren Meiſtern.

Auch dieſe Blüthe welkt. Von Giorgiones Goldgluth der Localfarbe
iſt Titian zu der feineren Welt der Uebergänge, Brechungen, Töne,
Paolo Veroneſe zum höchſten Rhythmus eines Farbenganzen bei vollen-
deter Nachbildung des Einzelnen, der Gewandſtoffe u. ſ. w. fortgeſchritten,
Tintoretto zieht die Bravour M. Angelo’s in der Zeichnung zu einer durch
Beleuchtungs- und Schatten-Effecte ſich ſelbſt verdunkelnden Farbenfertig-
keit herbei und mit Baſſano ſinkt dieſe Kunſtwelt an der Schwelle des
ländlichen Sittenbildes ſchwunglos zu Boden.

2. Der deutſche Styl.
§. 726.

Die deutſche Nation übernimmt vermöge ihrer geiſtigen Anlage die
Ausbildung des ächt maleriſchen Styls, löst jedoch ihre Aufgabe während
dieſer ganzen Periode in unvollkommener Weiſe, indem zwiſchen dem Ausdruck
tiefer Innerlichkeit und der nationalen Schärfe in Auffaſſung der Individualität,
der liebevollen Aufnahme der Umgebung eine Härte und Unbewegtheit der Form
ſtehen bleibt, welche weſentlich als Mangel an Plaſtik, aber in gewiſſem Sinn
auch als eine falſche Plaſtik erſcheint, die der früh entwickelten Farben-
ſchönheit
nicht erlaubt, ſich nach allen Beziehungen geltend zu machen. Da-
her fehlt auch die Schutzwehr gegen den Abfall aus maleriſch begründetem in
unäſthetiſchen Naturaliſmus. Der Bildungstrieb, der ſich nicht in jene Mitte
zwiſchen Inhalt und Form zu legen vermag, wächst als phantaſtiſcher Humor
und reiches Ornamentſpiel aus.


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[723/0231] reinen Exiſtenz gelange, und ſo bleibt denn nur übrig, daß jener als Motiv, und zwar jetzt in einem viel loſeren, dürftigeren Sinn, als früher, nämlich als bloßes Vehikel (§. 465), als Haken diene, um dieß höhere Sittenbild daran zu hängen. Zu dieſer unwürdigen Stellung kommt es bei dem würdigſten Beſtreben, wenn die zwei Stoffwelten den Widerſpruch des gleichzeitigen Fortbeſtands behaupten. So muß denn eine Findung Moſis, eine Anweſenheit Chriſti bei dem Gaſtmahle des Levi, bei der Hochzeit zu Kana die Gelegenheit geben, die Pracht Venedigs, die Würde der Männer und die Schönheit der Frauen, die Pracht der Gewänder, Geräthe, Bedienung, Begleitung, Architektur in ihrem Glanz auszubreiten; nach Moſes fragt man nicht, Chriſtus ſelbſt und ſein Wunder werden kaum bemerkt. Uebrigens ſind es auch die h. Familien und die ſog. h. Converſationen, wo insbeſondere jene herrlichen Männergeſtalten, die wir als Hauptſtärke des italieniſchen Styls öfters hervorgehoben, ihre Stelle finden, und zwar ſchon bei den Bellini und den andern früheren Meiſtern. Auch dieſe Blüthe welkt. Von Giorgiones Goldgluth der Localfarbe iſt Titian zu der feineren Welt der Uebergänge, Brechungen, Töne, Paolo Veroneſe zum höchſten Rhythmus eines Farbenganzen bei vollen- deter Nachbildung des Einzelnen, der Gewandſtoffe u. ſ. w. fortgeſchritten, Tintoretto zieht die Bravour M. Angelo’s in der Zeichnung zu einer durch Beleuchtungs- und Schatten-Effecte ſich ſelbſt verdunkelnden Farbenfertig- keit herbei und mit Baſſano ſinkt dieſe Kunſtwelt an der Schwelle des ländlichen Sittenbildes ſchwunglos zu Boden. 2. Der deutſche Styl. §. 726. Die deutſche Nation übernimmt vermöge ihrer geiſtigen Anlage die Ausbildung des ächt maleriſchen Styls, löst jedoch ihre Aufgabe während dieſer ganzen Periode in unvollkommener Weiſe, indem zwiſchen dem Ausdruck tiefer Innerlichkeit und der nationalen Schärfe in Auffaſſung der Individualität, der liebevollen Aufnahme der Umgebung eine Härte und Unbewegtheit der Form ſtehen bleibt, welche weſentlich als Mangel an Plaſtik, aber in gewiſſem Sinn auch als eine falſche Plaſtik erſcheint, die der früh entwickelten Farben- ſchönheit nicht erlaubt, ſich nach allen Beziehungen geltend zu machen. Da- her fehlt auch die Schutzwehr gegen den Abfall aus maleriſch begründetem in unäſthetiſchen Naturaliſmus. Der Bildungstrieb, der ſich nicht in jene Mitte zwiſchen Inhalt und Form zu legen vermag, wächst als phantaſtiſcher Humor und reiches Ornamentſpiel aus.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 723. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/231>, abgerufen am 29.03.2024.