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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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antiker Form, wie sie in der Kölner-Schule noch sichtbar ist und wie sie
selbst bei Hubert anfangs noch zu Tage tritt, hatte nicht hingereicht; ein
neuer, tieferer Trunk aus der Quelle that Noth, der schwerfälligen deutschen
Natur doppelt Noth, und er blieb aus. Wohl zu bedenken ist freilich,
daß die Verschmelzung unendlich schwerer sein mußte, wo das Malerische
in solcher Strenge Prinzip war. Die Gegensätze stehen hier auf ihrer
Spitze; der Uebergang vom einen zum andern, das Amalgam, das ein
Drittes aus beiden bilden soll, ist keine einfache Aufgabe, sondern eine weit-
schichtige und von langer Hand; vorerst konnte jenen haarscharfen Indi-
vidualisten das Prinzip des directen Idealismus nur etwas völlig Fremdes
sein, für das sie kein Organ hatten. Nur auf gewissen Puncten gieng
der rundere Fluß und die gelöstere Anmuth der Form auch ihnen nie
ganz aus: das ist insbesondere die Darstellung weiblicher Seelenschönheit,
vor Allem in den Madonnen. Hier blieben sie idealer und ein Memling
bezaubert so tief und innig, als ein Pietro Perugino.

§. 729.

Der bestechenden Kraft, womit dieser Styl sich über Deutschland aus-
breitet, kann die Erinnerung plastischer Formen und der offnere Sinn für die-
selben, der sich namentlich im Süden in einer breiteren, runderen, fließenderen
Darstellung kund gibt, nicht widerstehen; die miniaturartige Behandlung wird
aufgegeben, aber nun die Schärfe der Charakteristik bis zur Ueberladung phan-
tastischen Humors und die Härte des Umrisses noch mehr in das Eckige getrieben.

In Köln, Westphalen, Franken, Schwaben sehen wir überall jenen
Styl, der im Zuge schien, die altchristliche Reminiscenz der Antike, den
weicheren Fluß der Form fortzubilden, plötzlich abgebrochen und nur, wie
bei den Niederländern selbst, in das Gebiet des weiblichen Ideals gerettet,
während die Männerwelt immer knorriger, zackiger, naturalistischer im
gemeinen Sinne wird und die Verzerrung sich vorzüglich auf die
Widersacher Christi wirft. Die Nürnberger hatten in ihrem nüchternen,
heiteren, schlicht bürgerlichen Sinne, der mit scharfem Auge auf die Form
gerichtet war, etwas von den Florentinern, aber H. Wohlgemuth übt
nur eine schwankende Reaction vom Boden jenes runderen Formensinns und
gerade in seiner Schule wird der knorpelige Absprung des Umrisses, die
Caricatur des Bösen recht zur stehenden Gewohnheit. Am stärksten ist
der Sinn für die Welle der Schönheit in den süddeutschen Malern und er
verbindet sich mit einem ungleich blühenderen Farbensinn. Hans Holbein
(der Vater), Martin Schön, Zeitblom bewahren eine milde Anmuth,
eine edle Würde und feierliche Hoheit, die tiefe Empfindung legt sich offen

antiker Form, wie ſie in der Kölner-Schule noch ſichtbar iſt und wie ſie
ſelbſt bei Hubert anfangs noch zu Tage tritt, hatte nicht hingereicht; ein
neuer, tieferer Trunk aus der Quelle that Noth, der ſchwerfälligen deutſchen
Natur doppelt Noth, und er blieb aus. Wohl zu bedenken iſt freilich,
daß die Verſchmelzung unendlich ſchwerer ſein mußte, wo das Maleriſche
in ſolcher Strenge Prinzip war. Die Gegenſätze ſtehen hier auf ihrer
Spitze; der Uebergang vom einen zum andern, das Amalgam, das ein
Drittes aus beiden bilden ſoll, iſt keine einfache Aufgabe, ſondern eine weit-
ſchichtige und von langer Hand; vorerſt konnte jenen haarſcharfen Indi-
vidualiſten das Prinzip des directen Idealismus nur etwas völlig Fremdes
ſein, für das ſie kein Organ hatten. Nur auf gewiſſen Puncten gieng
der rundere Fluß und die gelöstere Anmuth der Form auch ihnen nie
ganz aus: das iſt insbeſondere die Darſtellung weiblicher Seelenſchönheit,
vor Allem in den Madonnen. Hier blieben ſie idealer und ein Memling
bezaubert ſo tief und innig, als ein Pietro Perugino.

§. 729.

Der beſtechenden Kraft, womit dieſer Styl ſich über Deutſchland aus-
breitet, kann die Erinnerung plaſtiſcher Formen und der offnere Sinn für die-
ſelben, der ſich namentlich im Süden in einer breiteren, runderen, fließenderen
Darſtellung kund gibt, nicht widerſtehen; die miniaturartige Behandlung wird
aufgegeben, aber nun die Schärfe der Charakteriſtik bis zur Ueberladung phan-
taſtiſchen Humors und die Härte des Umriſſes noch mehr in das Eckige getrieben.

In Köln, Weſtphalen, Franken, Schwaben ſehen wir überall jenen
Styl, der im Zuge ſchien, die altchriſtliche Reminiscenz der Antike, den
weicheren Fluß der Form fortzubilden, plötzlich abgebrochen und nur, wie
bei den Niederländern ſelbſt, in das Gebiet des weiblichen Ideals gerettet,
während die Männerwelt immer knorriger, zackiger, naturaliſtiſcher im
gemeinen Sinne wird und die Verzerrung ſich vorzüglich auf die
Widerſacher Chriſti wirft. Die Nürnberger hatten in ihrem nüchternen,
heiteren, ſchlicht bürgerlichen Sinne, der mit ſcharfem Auge auf die Form
gerichtet war, etwas von den Florentinern, aber H. Wohlgemuth übt
nur eine ſchwankende Reaction vom Boden jenes runderen Formenſinns und
gerade in ſeiner Schule wird der knorpelige Abſprung des Umriſſes, die
Caricatur des Böſen recht zur ſtehenden Gewohnheit. Am ſtärkſten iſt
der Sinn für die Welle der Schönheit in den ſüddeutſchen Malern und er
verbindet ſich mit einem ungleich blühenderen Farbenſinn. Hans Holbein
(der Vater), Martin Schön, Zeitblom bewahren eine milde Anmuth,
eine edle Würde und feierliche Hoheit, die tiefe Empfindung legt ſich offen

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[732/0240] antiker Form, wie ſie in der Kölner-Schule noch ſichtbar iſt und wie ſie ſelbſt bei Hubert anfangs noch zu Tage tritt, hatte nicht hingereicht; ein neuer, tieferer Trunk aus der Quelle that Noth, der ſchwerfälligen deutſchen Natur doppelt Noth, und er blieb aus. Wohl zu bedenken iſt freilich, daß die Verſchmelzung unendlich ſchwerer ſein mußte, wo das Maleriſche in ſolcher Strenge Prinzip war. Die Gegenſätze ſtehen hier auf ihrer Spitze; der Uebergang vom einen zum andern, das Amalgam, das ein Drittes aus beiden bilden ſoll, iſt keine einfache Aufgabe, ſondern eine weit- ſchichtige und von langer Hand; vorerſt konnte jenen haarſcharfen Indi- vidualiſten das Prinzip des directen Idealismus nur etwas völlig Fremdes ſein, für das ſie kein Organ hatten. Nur auf gewiſſen Puncten gieng der rundere Fluß und die gelöstere Anmuth der Form auch ihnen nie ganz aus: das iſt insbeſondere die Darſtellung weiblicher Seelenſchönheit, vor Allem in den Madonnen. Hier blieben ſie idealer und ein Memling bezaubert ſo tief und innig, als ein Pietro Perugino. §. 729. Der beſtechenden Kraft, womit dieſer Styl ſich über Deutſchland aus- breitet, kann die Erinnerung plaſtiſcher Formen und der offnere Sinn für die- ſelben, der ſich namentlich im Süden in einer breiteren, runderen, fließenderen Darſtellung kund gibt, nicht widerſtehen; die miniaturartige Behandlung wird aufgegeben, aber nun die Schärfe der Charakteriſtik bis zur Ueberladung phan- taſtiſchen Humors und die Härte des Umriſſes noch mehr in das Eckige getrieben. In Köln, Weſtphalen, Franken, Schwaben ſehen wir überall jenen Styl, der im Zuge ſchien, die altchriſtliche Reminiscenz der Antike, den weicheren Fluß der Form fortzubilden, plötzlich abgebrochen und nur, wie bei den Niederländern ſelbſt, in das Gebiet des weiblichen Ideals gerettet, während die Männerwelt immer knorriger, zackiger, naturaliſtiſcher im gemeinen Sinne wird und die Verzerrung ſich vorzüglich auf die Widerſacher Chriſti wirft. Die Nürnberger hatten in ihrem nüchternen, heiteren, ſchlicht bürgerlichen Sinne, der mit ſcharfem Auge auf die Form gerichtet war, etwas von den Florentinern, aber H. Wohlgemuth übt nur eine ſchwankende Reaction vom Boden jenes runderen Formenſinns und gerade in ſeiner Schule wird der knorpelige Abſprung des Umriſſes, die Caricatur des Böſen recht zur ſtehenden Gewohnheit. Am ſtärkſten iſt der Sinn für die Welle der Schönheit in den ſüddeutſchen Malern und er verbindet ſich mit einem ungleich blühenderen Farbenſinn. Hans Holbein (der Vater), Martin Schön, Zeitblom bewahren eine milde Anmuth, eine edle Würde und feierliche Hoheit, die tiefe Empfindung legt ſich offen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 732. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/240>, abgerufen am 29.03.2024.