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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Fälle geben, wo die Hauptperson schwer zu bezeichnen ist und doch die
Einheit nicht leidet; ein solcher ist Shakespeare's Jul. Cäsar, wo der Held,
der dem Stücke den Namen gegeben, früh untergeht und Brutus zum Helden
des Stücks wird, während doch sein und seiner Verbündeten Leiden und
die Niederlage der republikanischen Idee als ein Fortwirken des Gemordeten,
eine Handlung seiner Manen erscheint. Wo das Pathos der Liebe den
Inhalt bildet, treten zwei Personen, die in der Unendlichkeit ihrer idealen
Leidenschaft zu Einer werden, so vereinigt in den Vordergrund, daß man
zweifeln kann, ob der wagende Jüngling oder das zur Heldinn gewordene
Weib die Hauptperson ist, wie in Romeo und Julie. Der Charakter, welcher
an der Spitze der Gegenseite steht, gegen welche der dramatische Held kämpft,
wird häufig schärfer gezeichnet erscheinen, als dieser, denn er vertritt die
verhärtete Gestalt des Bestehenden, die herbe Welt des Verstandes oder das
Böse, die Intrigue, während jener durch das phantasievoll Geniale seines
Wollens jugendlicher erscheint, ohne darum das Prädicat der schwungvolleren
Energie zu verlieren; so ist selbst das Weib Antigone in der Handlung der
Tragödie doch unzweifelhaft der Hauptcharakter gegenüber dem starren,
harten Männercharakter Kreon's. Man erkennt daraus, wie hier Alles auf
die Stellung ankommt, die ein Charakter in der gegenwärtigen Handlung
einnimmt, denn Hauptperson ist, wer die vollste Kraft in die Durchführung
des Zweckes setzt, um den jene sich dreht. Dieß führt auf den wahren
Einheitspunct im Drama.

§. 899.

Was durch diese Zweckthätigkeit des Willens geschieht, ist im intensiven
Sinne des Wortes Handlung, eine Reihe von Thaten mit einer entscheidenden
That im Mittelpuncte. Durch sie bereiten sich die Personen ihr Schicksal.
Dieses geht aus dem Kampfe der Wirkungen und Gegenwirkungen als das
dem Ganzen dieser Bewegung vorher verborgen inwohnende Gesetz hervor, stellt
sich als das wahrhaft Herrschende, als das wahre Subject der Handlung heraus
und zieht also das Haupt-Interesse, welchem sich nun das für die Charaktere
unterordnet, auf sich. Keine Form der Kunst ist so ganz, wie das Drama,
zur Darstellung des Tragischen berufen.

Aristoteles sagt (Poet. C. 6): die Hauptsache in der Tragödie sei der
Mythus, die Zusammenstellung der Begebenheiten, denn diese Dichtungsart
sei eine Nachahmung nicht von Personen, sondern von Handlungen, Lebens-
verhältnissen, Glück und Unglück, ihr Ziel sei eine Handlung, nicht eine
Beschaffenheit; die Handlung sei nicht da zum Zwecke der Sittendarstellung,
sondern ihretwegen werde diese mitumfaßt, und eher sei eine Tragödie ohne

Fälle geben, wo die Hauptperſon ſchwer zu bezeichnen iſt und doch die
Einheit nicht leidet; ein ſolcher iſt Shakespeare’s Jul. Cäſar, wo der Held,
der dem Stücke den Namen gegeben, früh untergeht und Brutus zum Helden
des Stücks wird, während doch ſein und ſeiner Verbündeten Leiden und
die Niederlage der republikaniſchen Idee als ein Fortwirken des Gemordeten,
eine Handlung ſeiner Manen erſcheint. Wo das Pathos der Liebe den
Inhalt bildet, treten zwei Perſonen, die in der Unendlichkeit ihrer idealen
Leidenſchaft zu Einer werden, ſo vereinigt in den Vordergrund, daß man
zweifeln kann, ob der wagende Jüngling oder das zur Heldinn gewordene
Weib die Hauptperſon iſt, wie in Romeo und Julie. Der Charakter, welcher
an der Spitze der Gegenſeite ſteht, gegen welche der dramatiſche Held kämpft,
wird häufig ſchärfer gezeichnet erſcheinen, als dieſer, denn er vertritt die
verhärtete Geſtalt des Beſtehenden, die herbe Welt des Verſtandes oder das
Böſe, die Intrigue, während jener durch das phantaſievoll Geniale ſeines
Wollens jugendlicher erſcheint, ohne darum das Prädicat der ſchwungvolleren
Energie zu verlieren; ſo iſt ſelbſt das Weib Antigone in der Handlung der
Tragödie doch unzweifelhaft der Hauptcharakter gegenüber dem ſtarren,
harten Männercharakter Kreon’s. Man erkennt daraus, wie hier Alles auf
die Stellung ankommt, die ein Charakter in der gegenwärtigen Handlung
einnimmt, denn Hauptperſon iſt, wer die vollſte Kraft in die Durchführung
des Zweckes ſetzt, um den jene ſich dreht. Dieß führt auf den wahren
Einheitspunct im Drama.

§. 899.

Was durch dieſe Zweckthätigkeit des Willens geſchieht, iſt im intenſiven
Sinne des Wortes Handlung, eine Reihe von Thaten mit einer entſcheidenden
That im Mittelpuncte. Durch ſie bereiten ſich die Perſonen ihr Schickſal.
Dieſes geht aus dem Kampfe der Wirkungen und Gegenwirkungen als das
dem Ganzen dieſer Bewegung vorher verborgen inwohnende Geſetz hervor, ſtellt
ſich als das wahrhaft Herrſchende, als das wahre Subject der Handlung heraus
und zieht alſo das Haupt-Intereſſe, welchem ſich nun das für die Charaktere
unterordnet, auf ſich. Keine Form der Kunſt iſt ſo ganz, wie das Drama,
zur Darſtellung des Tragiſchen berufen.

Ariſtoteles ſagt (Poet. C. 6): die Hauptſache in der Tragödie ſei der
Mythus, die Zuſammenſtellung der Begebenheiten, denn dieſe Dichtungsart
ſei eine Nachahmung nicht von Perſonen, ſondern von Handlungen, Lebens-
verhältniſſen, Glück und Unglück, ihr Ziel ſei eine Handlung, nicht eine
Beſchaffenheit; die Handlung ſei nicht da zum Zwecke der Sittendarſtellung,
ſondern ihretwegen werde dieſe mitumfaßt, und eher ſei eine Tragödie ohne

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[1386/0250] Fälle geben, wo die Hauptperſon ſchwer zu bezeichnen iſt und doch die Einheit nicht leidet; ein ſolcher iſt Shakespeare’s Jul. Cäſar, wo der Held, der dem Stücke den Namen gegeben, früh untergeht und Brutus zum Helden des Stücks wird, während doch ſein und ſeiner Verbündeten Leiden und die Niederlage der republikaniſchen Idee als ein Fortwirken des Gemordeten, eine Handlung ſeiner Manen erſcheint. Wo das Pathos der Liebe den Inhalt bildet, treten zwei Perſonen, die in der Unendlichkeit ihrer idealen Leidenſchaft zu Einer werden, ſo vereinigt in den Vordergrund, daß man zweifeln kann, ob der wagende Jüngling oder das zur Heldinn gewordene Weib die Hauptperſon iſt, wie in Romeo und Julie. Der Charakter, welcher an der Spitze der Gegenſeite ſteht, gegen welche der dramatiſche Held kämpft, wird häufig ſchärfer gezeichnet erſcheinen, als dieſer, denn er vertritt die verhärtete Geſtalt des Beſtehenden, die herbe Welt des Verſtandes oder das Böſe, die Intrigue, während jener durch das phantaſievoll Geniale ſeines Wollens jugendlicher erſcheint, ohne darum das Prädicat der ſchwungvolleren Energie zu verlieren; ſo iſt ſelbſt das Weib Antigone in der Handlung der Tragödie doch unzweifelhaft der Hauptcharakter gegenüber dem ſtarren, harten Männercharakter Kreon’s. Man erkennt daraus, wie hier Alles auf die Stellung ankommt, die ein Charakter in der gegenwärtigen Handlung einnimmt, denn Hauptperſon iſt, wer die vollſte Kraft in die Durchführung des Zweckes ſetzt, um den jene ſich dreht. Dieß führt auf den wahren Einheitspunct im Drama. §. 899. Was durch dieſe Zweckthätigkeit des Willens geſchieht, iſt im intenſiven Sinne des Wortes Handlung, eine Reihe von Thaten mit einer entſcheidenden That im Mittelpuncte. Durch ſie bereiten ſich die Perſonen ihr Schickſal. Dieſes geht aus dem Kampfe der Wirkungen und Gegenwirkungen als das dem Ganzen dieſer Bewegung vorher verborgen inwohnende Geſetz hervor, ſtellt ſich als das wahrhaft Herrſchende, als das wahre Subject der Handlung heraus und zieht alſo das Haupt-Intereſſe, welchem ſich nun das für die Charaktere unterordnet, auf ſich. Keine Form der Kunſt iſt ſo ganz, wie das Drama, zur Darſtellung des Tragiſchen berufen. Ariſtoteles ſagt (Poet. C. 6): die Hauptſache in der Tragödie ſei der Mythus, die Zuſammenſtellung der Begebenheiten, denn dieſe Dichtungsart ſei eine Nachahmung nicht von Perſonen, ſondern von Handlungen, Lebens- verhältniſſen, Glück und Unglück, ihr Ziel ſei eine Handlung, nicht eine Beſchaffenheit; die Handlung ſei nicht da zum Zwecke der Sittendarſtellung, ſondern ihretwegen werde dieſe mitumfaßt, und eher ſei eine Tragödie ohne

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/250>, abgerufen am 25.04.2024.