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Walter, Marie: Das Frauenstimmrecht. Zürich, 1913.

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Brüderlichkeit auch die Frauenbewegung mächtig gefördert wurde.
Jhr begeisterter Anwalt Condorcet erhob schon 1787 in seinen
Briefen eines Bürgers von Newhaven die Forderung nach voller
Gleichberechtigung der Frauen. Fünf Jahre darauf erschien das
berühmte Werk der Engländerin Mary Wollstonecraft: "Forde-
rung der Frauenrechte", dem die deutsche Schrift Hippels über die
Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts folgte. Auch in der
Schweiz hatten sich seit Pestalozzi die Stimmen gemehrt, die nicht
nur intellektuelle, sondern auch vollständige politische und wirt-
schaftliche Gleichstellung der Frau forderten.

Allein weder die große französische Revolution noch die Frei-
heitserhebungen von 1848 vermochten in den Frauen der untern
Klassen den zündenden Funken zu einem bewußten organisierten
Wollen zu entfachen. Die soziale Revolution von 1789 riß wohl
eine ganze Reihe glänzender Frauengestalten auf die Welten-
bühne. Die eifrigen Revolutionärinnen Rose Lacombe, Olympe
de Gouges waren vor allem Kämpferinnen für die Rechte der
Frau. Madame Noland, deren geistige Bedeutung ein Goethe
anerkannte, nahm lebhaften Anteil an der Tagespolitik. Aber alle
jene in den Salons der Girondisten (Vertreter des Großbürger-
tums) sowie im Klub der Jakobiner (Vertreter der kleinbürger-
lichen Demokraten) am geistigen Leben der Revolution sich betei-
ligenden Frauen gehörten den höheren Gesellschaftsschichten an.
Sie traten in Wort und Schrift, für die Umgestaltung der herr-
schenden Gesellschaftsordnung ein. Eine nachhaltige Bewegung
vermochten die bürgerlichen Freiheitskämpfe indessen unter den
Frauen des Volkes nicht auszulösen. Zwar haben diese in
den bewegten Tagen der französischen, der deutschen, der Wiener
Revolution von 1848 auf den Barrikaden gestanden und an allen
Kämpfen mit der den Frauen eigenen Tapferkeit und Begeiste-
rung teilgenommen. Sogar die große Revolution kündet eine
erfolgreiche Frauentat: den berühmten Zug der hungernden
Frauen vom 5. September zum Versailler Königsschloß, um von
Ludwig XVI. Brot für sich und die Kinder zu verlangen. Aber das
alles waren keine von einem bewußten Willen getragene Ak-
tionen.

Erst dem Sozialismus fiel die hehre Aufgabe zu, die Gedrück-
testen, die Bejammernswertesten und die Rechtlosesten der mensch-
lichen Gesellschaft mit dem Lichte der Erkenntnis des erduldeten
Unrechts zu erfüllen und sie aufzuwecken aus dem tiefen geistigen
Schlafe, der sie lange Jahrhunderte umfangen hielt. Nicht Theorie,
nicht wissenschaftliches Grübeln waren es, das sie wach werden
ließ und ihnen den Weg ihrer Pflicht vorzeichnete. Die industrielle
Revolution, die mit der Erfindung der Dampfmaschine 1764 durch
James Watt einsetzte, der drei Jahre später die wichtigste mecha-

Brüderlichkeit auch die Frauenbewegung mächtig gefördert wurde.
Jhr begeisterter Anwalt Condorcet erhob schon 1787 in seinen
Briefen eines Bürgers von Newhaven die Forderung nach voller
Gleichberechtigung der Frauen. Fünf Jahre darauf erschien das
berühmte Werk der Engländerin Mary Wollstonecraft: „Forde-
rung der Frauenrechte“, dem die deutsche Schrift Hippels über die
Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts folgte. Auch in der
Schweiz hatten sich seit Pestalozzi die Stimmen gemehrt, die nicht
nur intellektuelle, sondern auch vollständige politische und wirt-
schaftliche Gleichstellung der Frau forderten.

Allein weder die große französische Revolution noch die Frei-
heitserhebungen von 1848 vermochten in den Frauen der untern
Klassen den zündenden Funken zu einem bewußten organisierten
Wollen zu entfachen. Die soziale Revolution von 1789 riß wohl
eine ganze Reihe glänzender Frauengestalten auf die Welten-
bühne. Die eifrigen Revolutionärinnen Rose Lacombe, Olympe
de Gouges waren vor allem Kämpferinnen für die Rechte der
Frau. Madame Noland, deren geistige Bedeutung ein Goethe
anerkannte, nahm lebhaften Anteil an der Tagespolitik. Aber alle
jene in den Salons der Girondisten (Vertreter des Großbürger-
tums) sowie im Klub der Jakobiner (Vertreter der kleinbürger-
lichen Demokraten) am geistigen Leben der Revolution sich betei-
ligenden Frauen gehörten den höheren Gesellschaftsschichten an.
Sie traten in Wort und Schrift, für die Umgestaltung der herr-
schenden Gesellschaftsordnung ein. Eine nachhaltige Bewegung
vermochten die bürgerlichen Freiheitskämpfe indessen unter den
Frauen des Volkes nicht auszulösen. Zwar haben diese in
den bewegten Tagen der französischen, der deutschen, der Wiener
Revolution von 1848 auf den Barrikaden gestanden und an allen
Kämpfen mit der den Frauen eigenen Tapferkeit und Begeiste-
rung teilgenommen. Sogar die große Revolution kündet eine
erfolgreiche Frauentat: den berühmten Zug der hungernden
Frauen vom 5. September zum Versailler Königsschloß, um von
Ludwig XVI. Brot für sich und die Kinder zu verlangen. Aber das
alles waren keine von einem bewußten Willen getragene Ak-
tionen.

Erst dem Sozialismus fiel die hehre Aufgabe zu, die Gedrück-
testen, die Bejammernswertesten und die Rechtlosesten der mensch-
lichen Gesellschaft mit dem Lichte der Erkenntnis des erduldeten
Unrechts zu erfüllen und sie aufzuwecken aus dem tiefen geistigen
Schlafe, der sie lange Jahrhunderte umfangen hielt. Nicht Theorie,
nicht wissenschaftliches Grübeln waren es, das sie wach werden
ließ und ihnen den Weg ihrer Pflicht vorzeichnete. Die industrielle
Revolution, die mit der Erfindung der Dampfmaschine 1764 durch
James Watt einsetzte, der drei Jahre später die wichtigste mecha-

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[12/0012] Brüderlichkeit auch die Frauenbewegung mächtig gefördert wurde. Jhr begeisterter Anwalt Condorcet erhob schon 1787 in seinen Briefen eines Bürgers von Newhaven die Forderung nach voller Gleichberechtigung der Frauen. Fünf Jahre darauf erschien das berühmte Werk der Engländerin Mary Wollstonecraft: „Forde- rung der Frauenrechte“, dem die deutsche Schrift Hippels über die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts folgte. Auch in der Schweiz hatten sich seit Pestalozzi die Stimmen gemehrt, die nicht nur intellektuelle, sondern auch vollständige politische und wirt- schaftliche Gleichstellung der Frau forderten. Allein weder die große französische Revolution noch die Frei- heitserhebungen von 1848 vermochten in den Frauen der untern Klassen den zündenden Funken zu einem bewußten organisierten Wollen zu entfachen. Die soziale Revolution von 1789 riß wohl eine ganze Reihe glänzender Frauengestalten auf die Welten- bühne. Die eifrigen Revolutionärinnen Rose Lacombe, Olympe de Gouges waren vor allem Kämpferinnen für die Rechte der Frau. Madame Noland, deren geistige Bedeutung ein Goethe anerkannte, nahm lebhaften Anteil an der Tagespolitik. Aber alle jene in den Salons der Girondisten (Vertreter des Großbürger- tums) sowie im Klub der Jakobiner (Vertreter der kleinbürger- lichen Demokraten) am geistigen Leben der Revolution sich betei- ligenden Frauen gehörten den höheren Gesellschaftsschichten an. Sie traten in Wort und Schrift, für die Umgestaltung der herr- schenden Gesellschaftsordnung ein. Eine nachhaltige Bewegung vermochten die bürgerlichen Freiheitskämpfe indessen unter den Frauen des Volkes nicht auszulösen. Zwar haben diese in den bewegten Tagen der französischen, der deutschen, der Wiener Revolution von 1848 auf den Barrikaden gestanden und an allen Kämpfen mit der den Frauen eigenen Tapferkeit und Begeiste- rung teilgenommen. Sogar die große Revolution kündet eine erfolgreiche Frauentat: den berühmten Zug der hungernden Frauen vom 5. September zum Versailler Königsschloß, um von Ludwig XVI. Brot für sich und die Kinder zu verlangen. Aber das alles waren keine von einem bewußten Willen getragene Ak- tionen. Erst dem Sozialismus fiel die hehre Aufgabe zu, die Gedrück- testen, die Bejammernswertesten und die Rechtlosesten der mensch- lichen Gesellschaft mit dem Lichte der Erkenntnis des erduldeten Unrechts zu erfüllen und sie aufzuwecken aus dem tiefen geistigen Schlafe, der sie lange Jahrhunderte umfangen hielt. Nicht Theorie, nicht wissenschaftliches Grübeln waren es, das sie wach werden ließ und ihnen den Weg ihrer Pflicht vorzeichnete. Die industrielle Revolution, die mit der Erfindung der Dampfmaschine 1764 durch James Watt einsetzte, der drei Jahre später die wichtigste mecha-

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-04-10T14:18:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-04-10T14:18:39Z)

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Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Walter, Marie: Das Frauenstimmrecht. Zürich, 1913, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/walter_frauenstimmrecht_1913/12>, abgerufen am 28.03.2024.