Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Freiburg (Breisgau) u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

ist das Proletariat Englands und Frankreichs zum Teil anders
geartet? Nicht nur die ältere ökonomische Erziehungsarbeit,
welche der organisierte Jnteressenkampf der englischen Arbeiter-
schaft an ihr vollzogen hat, ist der Grund: es ist vor allem
wiederum ein politisches Moment: die Resonanz der
Weltmachtstellung, welche den Staat stetig vor große macht-
politische Aufgaben stellt und den einzelnen in eine chronische
politische Schulung nimmt, die er bei uns nur, wenn die Grenzen
bedroht sind, akut empfängt. - Entscheidend ist auch für unsere
Entwicklung, ob eine große Politik uns wieder die Bedeutung
der großen politischen Machtfragen vor Augen zu stellen ver-
mag. Wir müssen begreifen, daß die Einigung Deutschlands ein
Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging
und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn
sie der Abschluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen
Weltmachtpolitik sein sollte.

Das Drohende unserer Situation aber ist: daß die bür-
gerlichen Klassen als Träger der Machtinteressen der Nation
zu verwelken scheinen und noch keine Anzeichen dafür vorhanden
sind, daß die Arbeiterschaft reif zu werden beginnt, an ihre
Stelle zu treten.

Nicht - wie diejenigen glauben, welche hypnotisiert in die
Tiefen der Gesellschaft starren, - bei den Massen liegt die Gefahr.
Nicht eine Frage nach der ökonomischen Lage der Be-
herrschten
, sondern die vielmehr nach der politischen Quali-
fikation der herrschenden und aufsteigenden Klassen ist
auch der letzte Jnhalt des sozialpolitischen Problems. Nicht
Weltbeglückung ist der Zweck unserer sozialpolitischen Arbeit,
sondern die soziale Einigung der Nation, welche die moderne

iſt das Proletariat Englands und Frankreichs zum Teil anders
geartet? Nicht nur die ältere ökonomiſche Erziehungsarbeit,
welche der organiſierte Jntereſſenkampf der engliſchen Arbeiter-
ſchaft an ihr vollzogen hat, iſt der Grund: es iſt vor allem
wiederum ein politiſches Moment: die Reſonanz der
Weltmachtſtellung, welche den Staat ſtetig vor große macht-
politiſche Aufgaben ſtellt und den einzelnen in eine chroniſche
politiſche Schulung nimmt, die er bei uns nur, wenn die Grenzen
bedroht ſind, akut empfängt. – Entſcheidend iſt auch für unſere
Entwicklung, ob eine große Politik uns wieder die Bedeutung
der großen politiſchen Machtfragen vor Augen zu ſtellen ver-
mag. Wir müſſen begreifen, daß die Einigung Deutſchlands ein
Jugendſtreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging
und ſeiner Koſtſpieligkeit halber beſſer unterlaſſen hätte, wenn
ſie der Abſchluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutſchen
Weltmachtpolitik ſein ſollte.

Das Drohende unſerer Situation aber iſt: daß die bür-
gerlichen Klaſſen als Träger der Machtintereſſen der Nation
zu verwelken ſcheinen und noch keine Anzeichen dafür vorhanden
ſind, daß die Arbeiterſchaft reif zu werden beginnt, an ihre
Stelle zu treten.

Nicht – wie diejenigen glauben, welche hypnotiſiert in die
Tiefen der Geſellſchaft ſtarren, – bei den Maſſen liegt die Gefahr.
Nicht eine Frage nach der ökonomiſchen Lage der Be-
herrſchten
, ſondern die vielmehr nach der politiſchen Quali-
fikation der herrſchenden und aufſteigenden Klaſſen iſt
auch der letzte Jnhalt des sozialpolitiſchen Problems. Nicht
Weltbeglückung iſt der Zweck unſerer ſozialpolitiſchen Arbeit,
ſondern die ſoziale Einigung der Nation, welche die moderne

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0038" n="32"/>
i&#x017F;t das Proletariat Englands und Frankreichs zum Teil anders<lb/>
geartet? Nicht nur die ältere <hi rendition="#g">ökonomi&#x017F;che</hi> Erziehungsarbeit,<lb/>
welche der organi&#x017F;ierte Jntere&#x017F;&#x017F;enkampf der engli&#x017F;chen Arbeiter-<lb/>
&#x017F;chaft an ihr vollzogen hat, i&#x017F;t der Grund: es i&#x017F;t vor allem<lb/>
wiederum ein <hi rendition="#g">politi&#x017F;ches</hi> Moment: die <hi rendition="#g">Re&#x017F;onanz</hi> der<lb/><hi rendition="#g">Weltmacht&#x017F;tellung</hi>, welche den Staat &#x017F;tetig vor große macht-<lb/>
politi&#x017F;che Aufgaben &#x017F;tellt und den einzelnen in eine chroni&#x017F;che<lb/>
politi&#x017F;che Schulung nimmt, die er bei uns nur, wenn die Grenzen<lb/>
bedroht &#x017F;ind, akut empfängt. &#x2013; Ent&#x017F;cheidend i&#x017F;t auch für <hi rendition="#g">un&#x017F;ere</hi><lb/>
Entwicklung, ob eine große Politik uns wieder die Bedeutung<lb/>
der großen politi&#x017F;chen Machtfragen vor Augen zu &#x017F;tellen ver-<lb/>
mag. Wir mü&#x017F;&#x017F;en begreifen, daß die Einigung Deut&#x017F;chlands ein<lb/>
Jugend&#x017F;treich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging<lb/>
und &#x017F;einer Ko&#x017F;t&#x017F;pieligkeit halber be&#x017F;&#x017F;er unterla&#x017F;&#x017F;en hätte, wenn<lb/>
&#x017F;ie der Ab&#x017F;chluß und nicht der Ausgangspunkt einer deut&#x017F;chen<lb/>
Weltmachtpolitik &#x017F;ein &#x017F;ollte.</p><lb/>
        <p>Das <hi rendition="#g">Drohende</hi> un&#x017F;erer Situation aber i&#x017F;t: daß die bür-<lb/>
gerlichen Kla&#x017F;&#x017F;en als Träger der Machtintere&#x017F;&#x017F;en der Nation<lb/>
zu verwelken &#x017F;cheinen und noch keine Anzeichen dafür vorhanden<lb/>
&#x017F;ind, daß die Arbeiter&#x017F;chaft reif zu werden beginnt, an ihre<lb/>
Stelle zu treten.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#g">Nicht</hi> &#x2013; wie diejenigen glauben, welche hypnoti&#x017F;iert in die<lb/>
Tiefen der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;tarren, &#x2013; bei den <hi rendition="#g">Ma&#x017F;&#x017F;en</hi> liegt die Gefahr.<lb/>
Nicht eine Frage nach der <hi rendition="#g">ökonomi&#x017F;chen</hi> Lage der <hi rendition="#g">Be-<lb/>
herr&#x017F;chten</hi>, &#x017F;ondern die vielmehr nach der <hi rendition="#g">politi&#x017F;chen</hi> Quali-<lb/>
fikation der <hi rendition="#g">herr&#x017F;chenden und auf&#x017F;teigenden</hi> Kla&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t<lb/>
auch der letzte Jnhalt des <hi rendition="#g">sozial</hi>politi&#x017F;chen Problems. Nicht<lb/>
Weltbeglückung i&#x017F;t der Zweck un&#x017F;erer &#x017F;ozialpoliti&#x017F;chen Arbeit,<lb/>
&#x017F;ondern die &#x017F;oziale <hi rendition="#g">Einigung</hi> der Nation, welche die moderne<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[32/0038] iſt das Proletariat Englands und Frankreichs zum Teil anders geartet? Nicht nur die ältere ökonomiſche Erziehungsarbeit, welche der organiſierte Jntereſſenkampf der engliſchen Arbeiter- ſchaft an ihr vollzogen hat, iſt der Grund: es iſt vor allem wiederum ein politiſches Moment: die Reſonanz der Weltmachtſtellung, welche den Staat ſtetig vor große macht- politiſche Aufgaben ſtellt und den einzelnen in eine chroniſche politiſche Schulung nimmt, die er bei uns nur, wenn die Grenzen bedroht ſind, akut empfängt. – Entſcheidend iſt auch für unſere Entwicklung, ob eine große Politik uns wieder die Bedeutung der großen politiſchen Machtfragen vor Augen zu ſtellen ver- mag. Wir müſſen begreifen, daß die Einigung Deutſchlands ein Jugendſtreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und ſeiner Koſtſpieligkeit halber beſſer unterlaſſen hätte, wenn ſie der Abſchluß und nicht der Ausgangspunkt einer deutſchen Weltmachtpolitik ſein ſollte. Das Drohende unſerer Situation aber iſt: daß die bür- gerlichen Klaſſen als Träger der Machtintereſſen der Nation zu verwelken ſcheinen und noch keine Anzeichen dafür vorhanden ſind, daß die Arbeiterſchaft reif zu werden beginnt, an ihre Stelle zu treten. Nicht – wie diejenigen glauben, welche hypnotiſiert in die Tiefen der Geſellſchaft ſtarren, – bei den Maſſen liegt die Gefahr. Nicht eine Frage nach der ökonomiſchen Lage der Be- herrſchten, ſondern die vielmehr nach der politiſchen Quali- fikation der herrſchenden und aufſteigenden Klaſſen iſt auch der letzte Jnhalt des sozialpolitiſchen Problems. Nicht Weltbeglückung iſt der Zweck unſerer ſozialpolitiſchen Arbeit, ſondern die ſoziale Einigung der Nation, welche die moderne

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-06T09:08:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-06T09:08:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-06T09:08:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

Bogensignaturen: übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): transkribiert; Normalisierungen: dokumentiert; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/weber_nationalstaat_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/weber_nationalstaat_1895/38
Zitationshilfe: Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Freiburg (Breisgau) u. a., 1895, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weber_nationalstaat_1895/38>, abgerufen am 29.03.2024.