Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

same Hinterhaupts-Schläfehirn. Ersteres ist motorisch,
d. h. es enthält die Bewegungsvorstellungen, letzteres sensorisch,
d. h. es enthalt die Erinnerungsbilder abgelaufener Sinnesein-
drücke. Das dazwischen gelegene eigentliche Scheitelhirn bildet
ein Uebergangsgebiet von noch streitiger Function.*)

Dieser Satz, eines der Fundamente der neueren Gehirn-
physiologie, stützt sich auf folgende Momente. Nach Meynert findet
der Theil des Hirnschenkels, welcher die bewussten Bewegungen
vermittelt, sein centrales Ende hauptsächlich in der Rinde des
Stirnhirnes. Heerderkrankungen in der Rinde des Stirnhirnes
setzen gekreuzte Convulsionen und Lähmungen. Von den flächen-
haften Erkrankungen des Grosshirnes ist die progressive Paralyse,
eine exquisit motorische Psychose, nach Meynert's Hirnwägungen**)
mit vorwiegender Atrophie des Stirnhirnes verbunden. Experi-
mentelle Beweise für die motorische Function des Stirnhirnes sind
von Fritsch und Hitzig, dann von Nothnagel beigebracht worden;
denn sämmtliche Punkte der Hirnrinde, deren Reizung Bewegun-
gen, deren Entfernung lähmungsartige Erscheinungen circumscrip-
ter Muskelgruppen hervorbrachten, sind im Stirntheile des Gehirnes
gelegen; die übrige Gehirnoberfläche erwies sich gegen directe
Reize indifferent.***)

Die durch Exstirpation der gefundenen Bewegungscentra er-
zielten lähmungsartigen Erscheinungen verdienen unsere besondere
Aufmerksamkeit. Sie wurden von Fritsch und Hitzig als eine
Störung des Muskelgefühles definirt, von Nothnagel direct als
Ataxie bezeichnet; beiderseits wird gegen den Begriff einer eigent-

*) Hitzig hat neuestens auch von der hintern Centralwindung aus Be-
wegungen hervorgerufen.
**) Die im Wintersemester 1872/73 von M. angegebenen Zahlen sind
folgende: Bei Tobsüchtigen, den den normalen nächst stehenden Gehirnen,
fanden sich unter 46 M., 70 Fr. im Mittel 41.52 und 41.90% des ganzen
Grosshirnmantels für das Stirnhirn. Bei Paralytikern dagegen unter 173 M
und 30 Fr. 40.35 und 39.90 %.
***) Ein übrigens im Hirnmark gelegener motorischer Punkt, welchen
Nothnagel am hintern Ende der Hemisphäre gefunden hat, gehört nach dessen
Beschreibung höchst wahrscheinlich zum Ammonshorn, einem schon von
Meynert als motorisch angesprochenem Gebilde.
Die neueren Versuche Hitzigs am Affengehirne beweisen nur, dass an
gewissen Punkten der Hirnrinde alle Fasern für gewisse combinirte Bewegungen
vereinigt sind, sie sprechen aber durchaus nicht gegen die von Meynert begrün-
dete motorische Bedeutung des ganzen Stirnhirnes.

same Hinterhaupts-Schläfehirn. Ersteres ist motorisch,
d. h. es enthält die Bewegungsvorstellungen, letzteres sensorisch,
d. h. es enthalt die Erinnerungsbilder abgelaufener Sinnesein-
drücke. Das dazwischen gelegene eigentliche Scheitelhirn bildet
ein Uebergangsgebiet von noch streitiger Function.*)

Dieser Satz, eines der Fundamente der neueren Gehirn-
physiologie, stützt sich auf folgende Momente. Nach Meynert findet
der Theil des Hirnschenkels, welcher die bewussten Bewegungen
vermittelt, sein centrales Ende hauptsächlich in der Rinde des
Stirnhirnes. Heerderkrankungen in der Rinde des Stirnhirnes
setzen gekreuzte Convulsionen und Lähmungen. Von den flächen-
haften Erkrankungen des Grosshirnes ist die progressive Paralyse,
eine exquisit motorische Psychose, nach Meynert’s Hirnwägungen**)
mit vorwiegender Atrophie des Stirnhirnes verbunden. Experi-
mentelle Beweise für die motorische Function des Stirnhirnes sind
von Fritsch und Hitzig, dann von Nothnagel beigebracht worden;
denn sämmtliche Punkte der Hirnrinde, deren Reizung Bewegun-
gen, deren Entfernung lähmungsartige Erscheinungen circumscrip-
ter Muskelgruppen hervorbrachten, sind im Stirntheile des Gehirnes
gelegen; die übrige Gehirnoberfläche erwies sich gegen directe
Reize indifferent.***)

Die durch Exstirpation der gefundenen Bewegungscentra er-
zielten lähmungsartigen Erscheinungen verdienen unsere besondere
Aufmerksamkeit. Sie wurden von Fritsch und Hitzig als eine
Störung des Muskelgefühles definirt, von Nothnagel direct als
Ataxie bezeichnet; beiderseits wird gegen den Begriff einer eigent-

*) Hitzig hat neuestens auch von der hintern Centralwindung aus Be-
wegungen hervorgerufen.
**) Die im Wintersemester 1872/73 von M. angegebenen Zahlen sind
folgende: Bei Tobsüchtigen, den den normalen nächst stehenden Gehirnen,
fanden sich unter 46 M., 70 Fr. im Mittel 41.52 und 41.90% des ganzen
Grosshirnmantels für das Stirnhirn. Bei Paralytikern dagegen unter 173 M
und 30 Fr. 40.35 und 39.90 %.
***) Ein übrigens im Hirnmark gelegener motorischer Punkt, welchen
Nothnagel am hintern Ende der Hemisphäre gefunden hat, gehört nach dessen
Beschreibung höchst wahrscheinlich zum Ammonshorn, einem schon von
Meynert als motorisch angesprochenem Gebilde.
Die neueren Versuche Hitzigs am Affengehirne beweisen nur, dass an
gewissen Punkten der Hirnrinde alle Fasern für gewisse combinirte Bewegungen
vereinigt sind, sie sprechen aber durchaus nicht gegen die von Meynert begrün-
dete motorische Bedeutung des ganzen Stirnhirnes.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0010" n="6"/>
same Hinterhaupts-Schläfehirn.</hi> Ersteres ist motorisch,<lb/>
d. h. es enthält die Bewegungsvorstellungen, letzteres sensorisch,<lb/>
d. h. es enthalt die Erinnerungsbilder abgelaufener Sinnesein-<lb/>
drücke. Das dazwischen gelegene eigentliche Scheitelhirn bildet<lb/>
ein Uebergangsgebiet von noch streitiger Function.<note place="foot" n="*)">Hitzig hat neuestens auch von der hintern Centralwindung aus Be-<lb/>
wegungen hervorgerufen.</note></p><lb/>
          <p>Dieser Satz, eines der Fundamente der neueren Gehirn-<lb/>
physiologie, stützt sich auf folgende Momente. Nach Meynert findet<lb/>
der Theil des Hirnschenkels, welcher die bewussten Bewegungen<lb/>
vermittelt, sein centrales Ende hauptsächlich in der Rinde des<lb/>
Stirnhirnes. Heerderkrankungen in der Rinde des Stirnhirnes<lb/>
setzen gekreuzte Convulsionen und Lähmungen. Von den flächen-<lb/>
haften Erkrankungen des Grosshirnes ist die progressive Paralyse,<lb/>
eine exquisit motorische Psychose, nach Meynert&#x2019;s Hirnwägungen<note place="foot" n="**)">Die im Wintersemester 1872/73 von M. angegebenen Zahlen sind<lb/>
folgende: Bei Tobsüchtigen, den den normalen nächst stehenden Gehirnen,<lb/>
fanden sich unter 46 M., 70 Fr. im Mittel 41.52 und 41.90% des ganzen<lb/>
Grosshirnmantels für das Stirnhirn. Bei Paralytikern dagegen unter 173 M<lb/>
und 30 Fr. 40.35 und 39.90 %.</note><lb/>
mit vorwiegender Atrophie des Stirnhirnes verbunden. Experi-<lb/>
mentelle Beweise für die motorische Function des Stirnhirnes sind<lb/>
von Fritsch und Hitzig, dann von Nothnagel beigebracht worden;<lb/>
denn sämmtliche Punkte der Hirnrinde, deren Reizung Bewegun-<lb/>
gen, deren Entfernung lähmungsartige Erscheinungen circumscrip-<lb/>
ter Muskelgruppen hervorbrachten, sind im Stirntheile des Gehirnes<lb/>
gelegen; die übrige Gehirnoberfläche erwies sich gegen directe<lb/>
Reize indifferent.<note place="foot" n="***)">Ein übrigens im Hirnmark gelegener motorischer Punkt, welchen<lb/>
Nothnagel am hintern Ende der Hemisphäre gefunden hat, gehört nach dessen<lb/>
Beschreibung höchst wahrscheinlich zum Ammonshorn, einem schon von<lb/>
Meynert als motorisch angesprochenem Gebilde.<lb/>
Die neueren Versuche Hitzigs am Affengehirne beweisen nur, dass an<lb/>
gewissen Punkten der Hirnrinde alle Fasern für gewisse combinirte Bewegungen<lb/>
vereinigt sind, sie sprechen aber durchaus nicht gegen die von Meynert begrün-<lb/>
dete motorische Bedeutung des ganzen Stirnhirnes.</note></p><lb/>
          <p>Die durch Exstirpation der gefundenen Bewegungscentra er-<lb/>
zielten lähmungsartigen Erscheinungen verdienen unsere besondere<lb/>
Aufmerksamkeit. Sie wurden von Fritsch und Hitzig als eine<lb/>
Störung des Muskelgefühles definirt, von Nothnagel direct als<lb/>
Ataxie bezeichnet; beiderseits wird gegen den Begriff einer eigent-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0010] same Hinterhaupts-Schläfehirn. Ersteres ist motorisch, d. h. es enthält die Bewegungsvorstellungen, letzteres sensorisch, d. h. es enthalt die Erinnerungsbilder abgelaufener Sinnesein- drücke. Das dazwischen gelegene eigentliche Scheitelhirn bildet ein Uebergangsgebiet von noch streitiger Function. *) Dieser Satz, eines der Fundamente der neueren Gehirn- physiologie, stützt sich auf folgende Momente. Nach Meynert findet der Theil des Hirnschenkels, welcher die bewussten Bewegungen vermittelt, sein centrales Ende hauptsächlich in der Rinde des Stirnhirnes. Heerderkrankungen in der Rinde des Stirnhirnes setzen gekreuzte Convulsionen und Lähmungen. Von den flächen- haften Erkrankungen des Grosshirnes ist die progressive Paralyse, eine exquisit motorische Psychose, nach Meynert’s Hirnwägungen **) mit vorwiegender Atrophie des Stirnhirnes verbunden. Experi- mentelle Beweise für die motorische Function des Stirnhirnes sind von Fritsch und Hitzig, dann von Nothnagel beigebracht worden; denn sämmtliche Punkte der Hirnrinde, deren Reizung Bewegun- gen, deren Entfernung lähmungsartige Erscheinungen circumscrip- ter Muskelgruppen hervorbrachten, sind im Stirntheile des Gehirnes gelegen; die übrige Gehirnoberfläche erwies sich gegen directe Reize indifferent. ***) Die durch Exstirpation der gefundenen Bewegungscentra er- zielten lähmungsartigen Erscheinungen verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. Sie wurden von Fritsch und Hitzig als eine Störung des Muskelgefühles definirt, von Nothnagel direct als Ataxie bezeichnet; beiderseits wird gegen den Begriff einer eigent- *) Hitzig hat neuestens auch von der hintern Centralwindung aus Be- wegungen hervorgerufen. **) Die im Wintersemester 1872/73 von M. angegebenen Zahlen sind folgende: Bei Tobsüchtigen, den den normalen nächst stehenden Gehirnen, fanden sich unter 46 M., 70 Fr. im Mittel 41.52 und 41.90% des ganzen Grosshirnmantels für das Stirnhirn. Bei Paralytikern dagegen unter 173 M und 30 Fr. 40.35 und 39.90 %. ***) Ein übrigens im Hirnmark gelegener motorischer Punkt, welchen Nothnagel am hintern Ende der Hemisphäre gefunden hat, gehört nach dessen Beschreibung höchst wahrscheinlich zum Ammonshorn, einem schon von Meynert als motorisch angesprochenem Gebilde. Die neueren Versuche Hitzigs am Affengehirne beweisen nur, dass an gewissen Punkten der Hirnrinde alle Fasern für gewisse combinirte Bewegungen vereinigt sind, sie sprechen aber durchaus nicht gegen die von Meynert begrün- dete motorische Bedeutung des ganzen Stirnhirnes.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/10
Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/10>, abgerufen am 28.03.2024.