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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Vorwort.
I 1 im herbste 1891, als sie fertig waren, auf den markt geworfen hätte,
so würde ich meiner person viel besser gedient haben. aber ich wollte
ein vollbild geben, wollte zeigen, wie sich die probleme der athenischen
geschichte und verfassung darstellen, wenn man sie ganz von frischem
auf grund des aristotelischen buches durchdenkt, und ich wollte versuchen,
ob ich nicht einmal ein en geben könnte. das forderte die geduld, erst
das ganze innerlich fertig zu machen, und den entschluss, eines tages
sich zu erklären, nun ist es fertig. so hoffe ich allerdings ein in sich
harmonisches bild zu geben; hätte ich immer wieder hier und da retou-
chirt, so würde das bild widerspruchsvoll geworden sein. widerspruchs-
voll ist die wissenschaftliche forschung; sie ruhet nimmer. ich bin des
ganz sicher, dass des falschen und übereilten nur zu viel in diesem buche
steht, und hoffe selbst und durch andere über vieles hinauszukommen.
aber das buch konnte nicht fertig werden, wenn ich nach der weise des
Protogenes hätte malen wollen. die schriftstellerische aufgabe fordert in un-
lösbarem widerspruche zu der wissenschaftlichen forschung einen abschluss.
wir wissen seit dem Phaidros, dass das buch überhaupt ein elendes ding
gegenüber der lebendigen forschung ist, und wir sind hoffentlich im
colleg klüger als in unsern büchern. aber Platon hat doch auch bücher
geschrieben, hat jedesmal was er wusste, so gut ers wusste, frei heraus
zu sagen gewagt, sicher sich selbst das nächste mal zu widersprechen
und hoffentlich zu berichtigen. so meine ich es verantworten zu können,
wenn ich etwas vorlege was, gerade weil es etwas fertiges sein will,
überall unfertig ist.

Die beilagen scheinen zu dem en nicht zu stimmen; es könnten
ihrer sehr viel mehr sein und auch etliche weniger. dennoch gebe ich sie
allein mit wirklicher freude. denn die schönste aufgabe der philologie
ist das interpretiren. ein document voll verstanden ist mehr wert als
alle apercus und alle stoffsammlungen. der schatz von belehrung der
so ans licht tritt, den zu heben man freilich ein vollbild vom ganzen in
sich tragen muss, ist ein ktema eis aei; unsere historie im weitesten
sinne kann meistens nur eis to parakhrema von nutzen sein. so hätte
ich mit der erläuterung von documenten, die ich zu verstehen glaube,
am liebsten noch lange nicht aufgehört. die fülle der concreten objecte
zog mich, und die liebe des philologen zu seinem eigentlichen handwerk
liess mich dem zuge des herzens nicht widerstehen: ei tout est adikem,
adiko.

Göttingen, 22. Mai 1893.

Vorwort.
I 1 im herbste 1891, als sie fertig waren, auf den markt geworfen hätte,
so würde ich meiner person viel besser gedient haben. aber ich wollte
ein vollbild geben, wollte zeigen, wie sich die probleme der athenischen
geschichte und verfassung darstellen, wenn man sie ganz von frischem
auf grund des aristotelischen buches durchdenkt, und ich wollte versuchen,
ob ich nicht einmal ein ἕν geben könnte. das forderte die geduld, erst
das ganze innerlich fertig zu machen, und den entschluſs, eines tages
sich zu erklären, nun ist es fertig. so hoffe ich allerdings ein in sich
harmonisches bild zu geben; hätte ich immer wieder hier und da retou-
chirt, so würde das bild widerspruchsvoll geworden sein. widerspruchs-
voll ist die wissenschaftliche forschung; sie ruhet nimmer. ich bin des
ganz sicher, daſs des falschen und übereilten nur zu viel in diesem buche
steht, und hoffe selbst und durch andere über vieles hinauszukommen.
aber das buch konnte nicht fertig werden, wenn ich nach der weise des
Protogenes hätte malen wollen. die schriftstellerische aufgabe fordert in un-
lösbarem widerspruche zu der wissenschaftlichen forschung einen abschluſs.
wir wissen seit dem Phaidros, daſs das buch überhaupt ein elendes ding
gegenüber der lebendigen forschung ist, und wir sind hoffentlich im
colleg klüger als in unsern büchern. aber Platon hat doch auch bücher
geschrieben, hat jedesmal was er wuſste, so gut ers wuſste, frei heraus
zu sagen gewagt, sicher sich selbst das nächste mal zu widersprechen
und hoffentlich zu berichtigen. so meine ich es verantworten zu können,
wenn ich etwas vorlege was, gerade weil es etwas fertiges sein will,
überall unfertig ist.

Die beilagen scheinen zu dem ἕν nicht zu stimmen; es könnten
ihrer sehr viel mehr sein und auch etliche weniger. dennoch gebe ich sie
allein mit wirklicher freude. denn die schönste aufgabe der philologie
ist das interpretiren. ein document voll verstanden ist mehr wert als
alle aperçus und alle stoffsammlungen. der schatz von belehrung der
so ans licht tritt, den zu heben man freilich ein vollbild vom ganzen in
sich tragen muſs, ist ein κτῆμα εἰς ἀεί; unsere historie im weitesten
sinne kann meistens nur εἰς τὸ παϱαχϱῆμα von nutzen sein. so hätte
ich mit der erläuterung von documenten, die ich zu verstehen glaube,
am liebsten noch lange nicht aufgehört. die fülle der concreten objecte
zog mich, und die liebe des philologen zu seinem eigentlichen handwerk
lieſs mich dem zuge des herzens nicht widerstehen: εἰ τοῦτ̕ ἔστ̕ ἀδίκημ̕,
ἀδικῶ.

Göttingen, 22. Mai 1893.

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[VI/0012] Vorwort. I 1 im herbste 1891, als sie fertig waren, auf den markt geworfen hätte, so würde ich meiner person viel besser gedient haben. aber ich wollte ein vollbild geben, wollte zeigen, wie sich die probleme der athenischen geschichte und verfassung darstellen, wenn man sie ganz von frischem auf grund des aristotelischen buches durchdenkt, und ich wollte versuchen, ob ich nicht einmal ein ἕν geben könnte. das forderte die geduld, erst das ganze innerlich fertig zu machen, und den entschluſs, eines tages sich zu erklären, nun ist es fertig. so hoffe ich allerdings ein in sich harmonisches bild zu geben; hätte ich immer wieder hier und da retou- chirt, so würde das bild widerspruchsvoll geworden sein. widerspruchs- voll ist die wissenschaftliche forschung; sie ruhet nimmer. ich bin des ganz sicher, daſs des falschen und übereilten nur zu viel in diesem buche steht, und hoffe selbst und durch andere über vieles hinauszukommen. aber das buch konnte nicht fertig werden, wenn ich nach der weise des Protogenes hätte malen wollen. die schriftstellerische aufgabe fordert in un- lösbarem widerspruche zu der wissenschaftlichen forschung einen abschluſs. wir wissen seit dem Phaidros, daſs das buch überhaupt ein elendes ding gegenüber der lebendigen forschung ist, und wir sind hoffentlich im colleg klüger als in unsern büchern. aber Platon hat doch auch bücher geschrieben, hat jedesmal was er wuſste, so gut ers wuſste, frei heraus zu sagen gewagt, sicher sich selbst das nächste mal zu widersprechen und hoffentlich zu berichtigen. so meine ich es verantworten zu können, wenn ich etwas vorlege was, gerade weil es etwas fertiges sein will, überall unfertig ist. Die beilagen scheinen zu dem ἕν nicht zu stimmen; es könnten ihrer sehr viel mehr sein und auch etliche weniger. dennoch gebe ich sie allein mit wirklicher freude. denn die schönste aufgabe der philologie ist das interpretiren. ein document voll verstanden ist mehr wert als alle aperçus und alle stoffsammlungen. der schatz von belehrung der so ans licht tritt, den zu heben man freilich ein vollbild vom ganzen in sich tragen muſs, ist ein κτῆμα εἰς ἀεί; unsere historie im weitesten sinne kann meistens nur εἰς τὸ παϱαχϱῆμα von nutzen sein. so hätte ich mit der erläuterung von documenten, die ich zu verstehen glaube, am liebsten noch lange nicht aufgehört. die fülle der concreten objecte zog mich, und die liebe des philologen zu seinem eigentlichen handwerk lieſs mich dem zuge des herzens nicht widerstehen: εἰ τοῦτ̕ ἔστ̕ ἀδίκημ̕, ἀδικῶ. Göttingen, 22. Mai 1893.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/12>, abgerufen am 25.04.2024.