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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die archontenliste.
im gedächtnis hatten, wie für uns das jahr der reformation oder der
französischen revolution. in der tat knüpft Aristoteles an diese zeit-
bestimmung mit der ordinalzahl seine nächste angabe (13, 1), und so
geht es mit angaben des zeitlichen abstandes in derselben form bis zum
jahre des Eukleides durch (39, 1), mit welchem seine historische skizze
schliesst. nur ein ereignis, die Kserxou strateia, ist eben so fest im
gedächtnis. er erwähnt sie, ohne sie durch den archon zu datiren
(22, 8), und rechnet dann doch von ihr ab, gleich als ob er sie datirt
hätte (23, 5 25, 1). das war also schon damals ein fester punkt, iden-
tisch mit dem jahre des Kallias 480/79. so ist es geblieben, als später
das weitere datum olymp. 75, 1 dazu trat.

Aus dem vierten jahrhundert ist nur ein jahr genannt, Kephisophon
330/29, das der allerjüngsten vergangenheit angehörte. leider aber fehlen
vor Solon die distanzangaben. so erfahren wir wol, dass Drakon seine
satzungen unter Aristaichmos gegeben hat (4, 1), aber nicht, wie
lange das vor Solon war; es heisst nur polun khronon (5, 1). und eben
so wenig ist Drakon an den archon Megakles angeschlossen, den Aristo-
teles vorher gelegentlich des Kylonischen attentates genannt hatte 12),
nicht sowol zur datirung, als weil er die schuld des mordes trug.
die einsetzung der thesmotheten vollends ist gar nicht auf den archon
datirt, obwol ausdrücklich gesagt wird, dass sie in später zeit stattfand,
als schon gesetze aufgeschrieben wurden und die ämter jährig waren
(3, 4); von königen erwähnt er Akastos und Medon, ohne sie auch nur
in ihrem gegenseitigen altersverhältnis zu bestimmen. darin liegt eine
wichtige kritik. Solon macht auch darin epoche, dass mit ihm die ge-
schichtliche zeitrechnung beginnt. auch in einem platonischen dialoge
wird als probe für die kraft eines gedächtniskünstlers angegeben, dass
er die archontennamen von Solon ab behalten könnte (Hipp. I 285).
Aristoteles traute jener ältesten überlieferung nicht auss jahr. wenn er
trotzdem jahrnamen gab, so war das eine inconsequenz in so fern, als
eine solche datirung durch einen blossen namen, wie wir vor den
steinen nur zu oft erfahren, so lange wertlos ist, bis der name fixirt
ist, und die bearbeitungen der stadtgeschichten, die ihm vorlagen, fixirten
ihn, da sie chronikform trugen. wir mögen immerhin die uns über-
lieferten daten aus der älteren zeit mit einer reserve betrachten, die sich
bewusst ist, dass sie einige latitude lassen muss; aber mit dieser
reserve können und müssen wir ihnen so weit trauen, als wir an die

12) Es ergibt sich das durch vergleichung der epitome des Herakleides mit
Plutarchs erzählung Sol. 12, die auf dieselbe quelle wie Aristoteles zurückgeht.

Die archontenliste.
im gedächtnis hatten, wie für uns das jahr der reformation oder der
französischen revolution. in der tat knüpft Aristoteles an diese zeit-
bestimmung mit der ordinalzahl seine nächste angabe (13, 1), und so
geht es mit angaben des zeitlichen abstandes in derselben form bis zum
jahre des Eukleides durch (39, 1), mit welchem seine historische skizze
schlieſst. nur ein ereignis, die Ξέϱξου στϱατεία, ist eben so fest im
gedächtnis. er erwähnt sie, ohne sie durch den archon zu datiren
(22, 8), und rechnet dann doch von ihr ab, gleich als ob er sie datirt
hätte (23, 5 25, 1). das war also schon damals ein fester punkt, iden-
tisch mit dem jahre des Kallias 480/79. so ist es geblieben, als später
das weitere datum olymp. 75, 1 dazu trat.

Aus dem vierten jahrhundert ist nur ein jahr genannt, Kephisophon
330/29, das der allerjüngsten vergangenheit angehörte. leider aber fehlen
vor Solon die distanzangaben. so erfahren wir wol, daſs Drakon seine
satzungen unter Aristaichmos gegeben hat (4, 1), aber nicht, wie
lange das vor Solon war; es heiſst nur πολὺν χϱόνον (5, 1). und eben
so wenig ist Drakon an den archon Megakles angeschlossen, den Aristo-
teles vorher gelegentlich des Kylonischen attentates genannt hatte 12),
nicht sowol zur datirung, als weil er die schuld des mordes trug.
die einsetzung der thesmotheten vollends ist gar nicht auf den archon
datirt, obwol ausdrücklich gesagt wird, daſs sie in später zeit stattfand,
als schon gesetze aufgeschrieben wurden und die ämter jährig waren
(3, 4); von königen erwähnt er Akastos und Medon, ohne sie auch nur
in ihrem gegenseitigen altersverhältnis zu bestimmen. darin liegt eine
wichtige kritik. Solon macht auch darin epoche, daſs mit ihm die ge-
schichtliche zeitrechnung beginnt. auch in einem platonischen dialoge
wird als probe für die kraft eines gedächtniskünstlers angegeben, daſs
er die archontennamen von Solon ab behalten könnte (Hipp. I 285).
Aristoteles traute jener ältesten überlieferung nicht auſs jahr. wenn er
trotzdem jahrnamen gab, so war das eine inconsequenz in so fern, als
eine solche datirung durch einen bloſsen namen, wie wir vor den
steinen nur zu oft erfahren, so lange wertlos ist, bis der name fixirt
ist, und die bearbeitungen der stadtgeschichten, die ihm vorlagen, fixirten
ihn, da sie chronikform trugen. wir mögen immerhin die uns über-
lieferten daten aus der älteren zeit mit einer reserve betrachten, die sich
bewuſst ist, daſs sie einige latitude lassen muſs; aber mit dieser
reserve können und müssen wir ihnen so weit trauen, als wir an die

12) Es ergibt sich das durch vergleichung der epitome des Herakleides mit
Plutarchs erzählung Sol. 12, die auf dieselbe quelle wie Aristoteles zurückgeht.
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[9/0023] Die archontenliste. im gedächtnis hatten, wie für uns das jahr der reformation oder der französischen revolution. in der tat knüpft Aristoteles an diese zeit- bestimmung mit der ordinalzahl seine nächste angabe (13, 1), und so geht es mit angaben des zeitlichen abstandes in derselben form bis zum jahre des Eukleides durch (39, 1), mit welchem seine historische skizze schlieſst. nur ein ereignis, die Ξέϱξου στϱατεία, ist eben so fest im gedächtnis. er erwähnt sie, ohne sie durch den archon zu datiren (22, 8), und rechnet dann doch von ihr ab, gleich als ob er sie datirt hätte (23, 5 25, 1). das war also schon damals ein fester punkt, iden- tisch mit dem jahre des Kallias 480/79. so ist es geblieben, als später das weitere datum olymp. 75, 1 dazu trat. Aus dem vierten jahrhundert ist nur ein jahr genannt, Kephisophon 330/29, das der allerjüngsten vergangenheit angehörte. leider aber fehlen vor Solon die distanzangaben. so erfahren wir wol, daſs Drakon seine satzungen unter Aristaichmos gegeben hat (4, 1), aber nicht, wie lange das vor Solon war; es heiſst nur πολὺν χϱόνον (5, 1). und eben so wenig ist Drakon an den archon Megakles angeschlossen, den Aristo- teles vorher gelegentlich des Kylonischen attentates genannt hatte 12), nicht sowol zur datirung, als weil er die schuld des mordes trug. die einsetzung der thesmotheten vollends ist gar nicht auf den archon datirt, obwol ausdrücklich gesagt wird, daſs sie in später zeit stattfand, als schon gesetze aufgeschrieben wurden und die ämter jährig waren (3, 4); von königen erwähnt er Akastos und Medon, ohne sie auch nur in ihrem gegenseitigen altersverhältnis zu bestimmen. darin liegt eine wichtige kritik. Solon macht auch darin epoche, daſs mit ihm die ge- schichtliche zeitrechnung beginnt. auch in einem platonischen dialoge wird als probe für die kraft eines gedächtniskünstlers angegeben, daſs er die archontennamen von Solon ab behalten könnte (Hipp. I 285). Aristoteles traute jener ältesten überlieferung nicht auſs jahr. wenn er trotzdem jahrnamen gab, so war das eine inconsequenz in so fern, als eine solche datirung durch einen bloſsen namen, wie wir vor den steinen nur zu oft erfahren, so lange wertlos ist, bis der name fixirt ist, und die bearbeitungen der stadtgeschichten, die ihm vorlagen, fixirten ihn, da sie chronikform trugen. wir mögen immerhin die uns über- lieferten daten aus der älteren zeit mit einer reserve betrachten, die sich bewuſst ist, daſs sie einige latitude lassen muſs; aber mit dieser reserve können und müssen wir ihnen so weit trauen, als wir an die 12) Es ergibt sich das durch vergleichung der epitome des Herakleides mit Plutarchs erzählung Sol. 12, die auf dieselbe quelle wie Aristoteles zurückgeht.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/23>, abgerufen am 16.04.2024.