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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Unpolitische gedichte des alters.
pallakai gar vieler greise in Athen unbenannte, zu denen auch die
magd gehört, die der alte Cato heiratet, ist für das leben der alten zeit
höchst charakteristisch. "reizendes hindernis will die rasche jugend; ich
liebe mich des versicherten guts lange bequem zu erfreun." die stim-
mung Goethes in den neunziger jahren wird dem ernsthaften und ver-
ständigen die beste erläuterung sein. es ist ein genussleben, aber bei
allen den männern, die hier genannt sind, ein complement der ange-
strengten geistesarbeit. wie hoch erhaben über den gemeinen sinnen-
genuss es ist, kam Solon selbst in den fall auszuführen, der Athener
gegenüber dem Ionier, in dem gedichte an Mimnermos (20. 21). der
hatte nichts im leben getan als genossen, und da sah er voraus, dass
er als sechzigjähriger mit dem geniessen und dem leben fertig sein
würde; auf die hefe des trankes mochte er darum verzichten. Solon
führte ihm gegenüber die sache der natur zugleich und der ächten
menschenweisheit. er war mit sechzig jahren weder zum genusse un-
fähig noch lebensmüde und plaidirt deshalb für weitere 20 jahre. er
fürchtet kein grämliches alter, ist egoist genug, zu wünschen, dass er
sterbend eine lücke lasse, wozu dann freilich gehört, dass er so lange
er lebt seinen posten ausfüllt. und er weiss, dass seine existenz niemals
leer werden wird. gerasko d aiei polla didaskomenos (15), der
schönste seiner verse, gehört offenbar hierher. nehme man dazu aus
einem anderen gedichte, was er über den reichtum sagt, den er sich
wünscht (24)11), so hört man so ziemlich unsern weisen meister, der von
den göttern verlangt, was der dichter bedarf. "mässiges braucht er, doch
viel. erstlich freundliche wohnung, dann leidlich zu essen, zu trinken
gut, der Deutsche versteht sich auf den nektar wie ihr (davon sagt der
Grieche nichts besonderes). dann geziemende kleidung, und freunde,
vertraulich zu schwatzen; dann ein liebchen des nachts, das ihn von
herzen begehrt. diese fünf natürlichen dinge verlang' ich vor allem.
gebet mir ferner dazu sprachen, die alten und neu'n, dass ich der völker
gewerb' und ihre geschichten vernehme, gebt mir ein reines gefühl, was
sie in künsten getan."

Seine weisheit richtete Solon auch jetzt noch mehrfach an bestimmte
personen; ausser dem gedichte an Mimnermos hören wir noch von einem
an einen jungen mann aus verwandtem hause, den übermütigen Kritias

11) gastri te kai pleure kai posin abra pathein, paidos t ede gunaikos,
epen kai taut aphiketai, ebe; sun d ore ginetai armodia; taut aphenos thne-
toisi. Goethen ward das griechische durch Horaz Ep. I 12 vermittelt: aber wie
viel näher steht er dem griechischen als selbst Horaz.

Unpolitische gedichte des alters.
παλλακαὶ gar vieler greise in Athen unbenannte, zu denen auch die
magd gehört, die der alte Cato heiratet, ist für das leben der alten zeit
höchst charakteristisch. “reizendes hindernis will die rasche jugend; ich
liebe mich des versicherten guts lange bequem zu erfreun.” die stim-
mung Goethes in den neunziger jahren wird dem ernsthaften und ver-
ständigen die beste erläuterung sein. es ist ein genuſsleben, aber bei
allen den männern, die hier genannt sind, ein complement der ange-
strengten geistesarbeit. wie hoch erhaben über den gemeinen sinnen-
genuſs es ist, kam Solon selbst in den fall auszuführen, der Athener
gegenüber dem Ionier, in dem gedichte an Mimnermos (20. 21). der
hatte nichts im leben getan als genossen, und da sah er voraus, daſs
er als sechzigjähriger mit dem genieſsen und dem leben fertig sein
würde; auf die hefe des trankes mochte er darum verzichten. Solon
führte ihm gegenüber die sache der natur zugleich und der ächten
menschenweisheit. er war mit sechzig jahren weder zum genusse un-
fähig noch lebensmüde und plaidirt deshalb für weitere 20 jahre. er
fürchtet kein grämliches alter, ist egoist genug, zu wünschen, daſs er
sterbend eine lücke lasse, wozu dann freilich gehört, daſs er so lange
er lebt seinen posten ausfüllt. und er weiſs, daſs seine existenz niemals
leer werden wird. γηϱάσκω δ̕ αἰεὶ πολλὰ διδασκόμενος (15), der
schönste seiner verse, gehört offenbar hierher. nehme man dazu aus
einem anderen gedichte, was er über den reichtum sagt, den er sich
wünscht (24)11), so hört man so ziemlich unsern weisen meister, der von
den göttern verlangt, was der dichter bedarf. “mäſsiges braucht er, doch
viel. erstlich freundliche wohnung, dann leidlich zu essen, zu trinken
gut, der Deutsche versteht sich auf den nektar wie ihr (davon sagt der
Grieche nichts besonderes). dann geziemende kleidung, und freunde,
vertraulich zu schwatzen; dann ein liebchen des nachts, das ihn von
herzen begehrt. diese fünf natürlichen dinge verlang’ ich vor allem.
gebet mir ferner dazu sprachen, die alten und neu’n, daſs ich der völker
gewerb’ und ihre geschichten vernehme, gebt mir ein reines gefühl, was
sie in künsten getan.”

Seine weisheit richtete Solon auch jetzt noch mehrfach an bestimmte
personen; auſser dem gedichte an Mimnermos hören wir noch von einem
an einen jungen mann aus verwandtem hause, den übermütigen Kritias

11) γαστϱί τε καὶ πλευϱῇ καὶ ποσὶν ἁβϱὰ παϑεῖν, παιδός τ̕ ἠδὲ γυναικός,
ἐπὴν καὶ ταῦτ̕ ἀφίκηται, ἥβη· σὺν δ̕ ὥϱῃ γίνεται ἁϱμόδια· ταῦτ̕ ἄφενος ϑνη-
τοῖσι. Goethen ward das griechische durch Horaz Ep. I 12 vermittelt: aber wie
viel näher steht er dem griechischen als selbst Horaz.
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[313/0323] Unpolitische gedichte des alters. παλλακαὶ gar vieler greise in Athen unbenannte, zu denen auch die magd gehört, die der alte Cato heiratet, ist für das leben der alten zeit höchst charakteristisch. “reizendes hindernis will die rasche jugend; ich liebe mich des versicherten guts lange bequem zu erfreun.” die stim- mung Goethes in den neunziger jahren wird dem ernsthaften und ver- ständigen die beste erläuterung sein. es ist ein genuſsleben, aber bei allen den männern, die hier genannt sind, ein complement der ange- strengten geistesarbeit. wie hoch erhaben über den gemeinen sinnen- genuſs es ist, kam Solon selbst in den fall auszuführen, der Athener gegenüber dem Ionier, in dem gedichte an Mimnermos (20. 21). der hatte nichts im leben getan als genossen, und da sah er voraus, daſs er als sechzigjähriger mit dem genieſsen und dem leben fertig sein würde; auf die hefe des trankes mochte er darum verzichten. Solon führte ihm gegenüber die sache der natur zugleich und der ächten menschenweisheit. er war mit sechzig jahren weder zum genusse un- fähig noch lebensmüde und plaidirt deshalb für weitere 20 jahre. er fürchtet kein grämliches alter, ist egoist genug, zu wünschen, daſs er sterbend eine lücke lasse, wozu dann freilich gehört, daſs er so lange er lebt seinen posten ausfüllt. und er weiſs, daſs seine existenz niemals leer werden wird. γηϱάσκω δ̕ αἰεὶ πολλὰ διδασκόμενος (15), der schönste seiner verse, gehört offenbar hierher. nehme man dazu aus einem anderen gedichte, was er über den reichtum sagt, den er sich wünscht (24) 11), so hört man so ziemlich unsern weisen meister, der von den göttern verlangt, was der dichter bedarf. “mäſsiges braucht er, doch viel. erstlich freundliche wohnung, dann leidlich zu essen, zu trinken gut, der Deutsche versteht sich auf den nektar wie ihr (davon sagt der Grieche nichts besonderes). dann geziemende kleidung, und freunde, vertraulich zu schwatzen; dann ein liebchen des nachts, das ihn von herzen begehrt. diese fünf natürlichen dinge verlang’ ich vor allem. gebet mir ferner dazu sprachen, die alten und neu’n, daſs ich der völker gewerb’ und ihre geschichten vernehme, gebt mir ein reines gefühl, was sie in künsten getan.” Seine weisheit richtete Solon auch jetzt noch mehrfach an bestimmte personen; auſser dem gedichte an Mimnermos hören wir noch von einem an einen jungen mann aus verwandtem hause, den übermütigen Kritias 11) γαστϱί τε καὶ πλευϱῇ καὶ ποσὶν ἁβϱὰ παϑεῖν, παιδός τ̕ ἠδὲ γυναικός, ἐπὴν καὶ ταῦτ̕ ἀφίκηται, ἥβη· σὺν δ̕ ὥϱῃ γίνεται ἁϱμόδια· ταῦτ̕ ἄφενος ϑνη- τοῖσι. Goethen ward das griechische durch Horaz Ep. I 12 vermittelt: aber wie viel näher steht er dem griechischen als selbst Horaz.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/323>, abgerufen am 28.03.2024.