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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Uebersicht der ganzen scene.
kennen gibt. da somit seine gegenwart berechtigt ist, eröffnet Athena
als egemon dikasteriou die verhandlung (sie sagt es ausdrücklich) und
gibt dem kläger das wort, indem sie wieder diese geschäftsordnung
einsetzt und begründet.

Es folgt die verhandlung der parteien. der kläger wendet statt
der rede das lebhafte verhör an, dem der verklagte rede stehen muss.
Platons Apologie und die rede des Lysias wider Eratosthenes beweisen,
dass dies vor dem attischen gerichte angängig war. selbstverständlich
aber hat der tragiker, der noch nicht wie Euripides die schulmässige
rhetorik kannte oder gar liebte, die form gewählt, die für das drama
und den charakter der Erinyen passte.4) dagegen Apollon hält eine
wirkliche rede; er spricht zu den richtern und zu der vorsitzenden
göttin (629), wird zwar von den Erinyen unterbrochen und muss ihnen
lebhaft erwidern, lenkt aber immer wieder in die bahnen wol gemessener
rede ein und schliesst mit einem epiloge, der allerdings etwas exo tou
pragmatos ist (667--73), was für den Areopag nicht passt, um so mehr
aber für das attische gericht; und es dürfte im epiloge zumal auch auf
dem hügel so gar genau nicht genommen worden sein. der dichter aber
bedurfte dieser nur gerade für seine gegenwart bedeutsamen verse.
sie bereiten den schwur des Orestes vor, der nach seiner freisprechung
ein ewiges bündnis zwischen Athen und Argos in aussicht stellt, und
geben diesem bündnisse die göttliche garantie. es war ja 458 der eck-
stein der athenischen politik.5)


jemand der an dem rechtshandel teil hat, so sind es die Erinyen für Klytaimestra
761, denn ihnen gehört das blut des muttermörders, und ist es Zeus als schwurgott,
den Iasons eidbruch verletzt hat, für Medeia 158. daher wird das wort gebraucht
für die vertreter einer gemeinde oder einer anderen genossenschaft vor gericht, die
ihre eigene sache mit der gemeinsamen führen.
4) Die narretei der modernen geht so weit, statt der einen partei der Erinyen
zwölf choreuten reden zu lassen. war das etwa rechtens? natürlich wird dabei
die gewohnte abgeschmacktheit erzielt, dass der schritt vor schritt fortgehende zu-
sammenhang der fragen, der vorhanden ist, zerfetzt wird; denn zwölf köpfe denken
nicht in derselben linie. und der beweis? es sind elf chorpartien: wer sieht da
nicht dass zwölfe reden? die chorführerin aber sagt 'obwol wir viele sind, werden
wir uns kurz fassen, antworte du wort für wort (vers für vers)'. daraus soll folgen
'jede von uns wird einen vers sprechen' -- was sie dann doch nicht tun; die chor-
führerin scheint auf das wort verzichtet zu haben! und dabei ist endlich vergessen,
dass 15 choreuten für den Agamemnon überliefert sind, überliefert, nicht erschlossen.
5) Der dichter weiss davon noch nichts, dass die bündnisurkunde zwischen
Athen und Argos bei Apollon in Delphi wäre, also Apollon so zu sagen schwur-
zeuge. dreissig jahre später war das aufgebracht, und als Euripides 421 dieses selbe

Uebersicht der ganzen scene.
kennen gibt. da somit seine gegenwart berechtigt ist, eröffnet Athena
als ἡγεμὼν δικαστηϱίου die verhandlung (sie sagt es ausdrücklich) und
gibt dem kläger das wort, indem sie wieder diese geschäftsordnung
einsetzt und begründet.

Es folgt die verhandlung der parteien. der kläger wendet statt
der rede das lebhafte verhör an, dem der verklagte rede stehen muſs.
Platons Apologie und die rede des Lysias wider Eratosthenes beweisen,
daſs dies vor dem attischen gerichte angängig war. selbstverständlich
aber hat der tragiker, der noch nicht wie Euripides die schulmäſsige
rhetorik kannte oder gar liebte, die form gewählt, die für das drama
und den charakter der Erinyen paſste.4) dagegen Apollon hält eine
wirkliche rede; er spricht zu den richtern und zu der vorsitzenden
göttin (629), wird zwar von den Erinyen unterbrochen und muſs ihnen
lebhaft erwidern, lenkt aber immer wieder in die bahnen wol gemessener
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aber für das attische gericht; und es dürfte im epiloge zumal auch auf
dem hügel so gar genau nicht genommen worden sein. der dichter aber
bedurfte dieser nur gerade für seine gegenwart bedeutsamen verse.
sie bereiten den schwur des Orestes vor, der nach seiner freisprechung
ein ewiges bündnis zwischen Athen und Argos in aussicht stellt, und
geben diesem bündnisse die göttliche garantie. es war ja 458 der eck-
stein der athenischen politik.5)


jemand der an dem rechtshandel teil hat, so sind es die Erinyen für Klytaimestra
761, denn ihnen gehört das blut des muttermörders, und ist es Zeus als schwurgott,
den Iasons eidbruch verletzt hat, für Medeia 158. daher wird das wort gebraucht
für die vertreter einer gemeinde oder einer anderen genossenschaft vor gericht, die
ihre eigene sache mit der gemeinsamen führen.
4) Die narretei der modernen geht so weit, statt der einen partei der Erinyen
zwölf choreuten reden zu lassen. war das etwa rechtens? natürlich wird dabei
die gewohnte abgeschmacktheit erzielt, daſs der schritt vor schritt fortgehende zu-
sammenhang der fragen, der vorhanden ist, zerfetzt wird; denn zwölf köpfe denken
nicht in derselben linie. und der beweis? es sind elf chorpartien: wer sieht da
nicht daſs zwölfe reden? die chorführerin aber sagt ‘obwol wir viele sind, werden
wir uns kurz fassen, antworte du wort für wort (vers für vers)’. daraus soll folgen
‘jede von uns wird einen vers sprechen’ — was sie dann doch nicht tun; die chor-
führerin scheint auf das wort verzichtet zu haben! und dabei ist endlich vergessen,
daſs 15 choreuten für den Agamemnon überliefert sind, überliefert, nicht erschlossen.
5) Der dichter weiſs davon noch nichts, daſs die bündnisurkunde zwischen
Athen und Argos bei Apollon in Delphi wäre, also Apollon so zu sagen schwur-
zeuge. dreiſsig jahre später war das aufgebracht, und als Euripides 421 dieses selbe
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[331/0341] Uebersicht der ganzen scene. kennen gibt. da somit seine gegenwart berechtigt ist, eröffnet Athena als ἡγεμὼν δικαστηϱίου die verhandlung (sie sagt es ausdrücklich) und gibt dem kläger das wort, indem sie wieder diese geschäftsordnung einsetzt und begründet. Es folgt die verhandlung der parteien. der kläger wendet statt der rede das lebhafte verhör an, dem der verklagte rede stehen muſs. Platons Apologie und die rede des Lysias wider Eratosthenes beweisen, daſs dies vor dem attischen gerichte angängig war. selbstverständlich aber hat der tragiker, der noch nicht wie Euripides die schulmäſsige rhetorik kannte oder gar liebte, die form gewählt, die für das drama und den charakter der Erinyen paſste. 4) dagegen Apollon hält eine wirkliche rede; er spricht zu den richtern und zu der vorsitzenden göttin (629), wird zwar von den Erinyen unterbrochen und muſs ihnen lebhaft erwidern, lenkt aber immer wieder in die bahnen wol gemessener rede ein und schlieſst mit einem epiloge, der allerdings etwas ἔξω τοῦ πϱάγματος ist (667—73), was für den Areopag nicht paſst, um so mehr aber für das attische gericht; und es dürfte im epiloge zumal auch auf dem hügel so gar genau nicht genommen worden sein. der dichter aber bedurfte dieser nur gerade für seine gegenwart bedeutsamen verse. sie bereiten den schwur des Orestes vor, der nach seiner freisprechung ein ewiges bündnis zwischen Athen und Argos in aussicht stellt, und geben diesem bündnisse die göttliche garantie. es war ja 458 der eck- stein der athenischen politik. 5) 3) 4) Die narretei der modernen geht so weit, statt der einen partei der Erinyen zwölf choreuten reden zu lassen. war das etwa rechtens? natürlich wird dabei die gewohnte abgeschmacktheit erzielt, daſs der schritt vor schritt fortgehende zu- sammenhang der fragen, der vorhanden ist, zerfetzt wird; denn zwölf köpfe denken nicht in derselben linie. und der beweis? es sind elf chorpartien: wer sieht da nicht daſs zwölfe reden? die chorführerin aber sagt ‘obwol wir viele sind, werden wir uns kurz fassen, antworte du wort für wort (vers für vers)’. daraus soll folgen ‘jede von uns wird einen vers sprechen’ — was sie dann doch nicht tun; die chor- führerin scheint auf das wort verzichtet zu haben! und dabei ist endlich vergessen, daſs 15 choreuten für den Agamemnon überliefert sind, überliefert, nicht erschlossen. 5) Der dichter weiſs davon noch nichts, daſs die bündnisurkunde zwischen Athen und Argos bei Apollon in Delphi wäre, also Apollon so zu sagen schwur- zeuge. dreiſsig jahre später war das aufgebracht, und als Euripides 421 dieses selbe 3) jemand der an dem rechtshandel teil hat, so sind es die Erinyen für Klytaimestra 761, denn ihnen gehört das blut des muttermörders, und ist es Zeus als schwurgott, den Iasons eidbruch verletzt hat, für Medeia 158. daher wird das wort gebraucht für die vertreter einer gemeinde oder einer anderen genossenschaft vor gericht, die ihre eigene sache mit der gemeinsamen führen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/341>, abgerufen am 29.03.2024.