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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Uebersicht der ganzen scene. die rolle Athenas.
klar, da sie sowol vor der göttin stehend gedacht werden können, wie
auch die göttin während ihrer rede sich an den tisch begeben konnte.
auf jeden fall waren ziemlich viel requisiten in die orchestra gebracht.
nachdem sie gestimmt hat, proclamirt Athena noch ganz kurz das gesetz,
dass stimmengleichheit freisprechung bedeuten solle und ruft die richter,
denen das aufgetragen ist, herbei, den inhalt der urnen auszuschütten.
die vorletzte seite des Aristotelespapyrus führt uns diese commissare auch
vor, nur dass 458 weder die ungeschlachten stimmkreisel noch der
durchlöcherte tisch existirte, in den sie gesteckt wurden um gezählt zu
werden. während die steine ausgeschüttet werden, rufen die parteien
ein par worte der erwartung; Apollon fordert die commissare auf,
richtig zu zählen. rasch ist's getan, denn sie überreichen Athena die
geordneten stimmsteine (so weit dürfen wir der späteren analogie
folgen; es wäre zu töricht, wenn ein statist der göttin das ergebnis leise
mitteilte), die wol auch das publikum sieht: sie proclamirt das ergebnis.
der process ist beendet.

Athena ist der könig von Athen; als solcher handelt sie überhauptDie rolle
Athenas.

und als solcher übt sie den vorsitz des Areopages. der dichter hat durch
weises schweigen dieses drama aus aller chronologie herausgerückt.
Athena kommt zwar vom Skamandros, wo sie das land vermessen hat,
das die Theseussöhne von Agamemnon als ehrensold erhalten haben (402),
d. h. von Sigeion; aber diese Theseussöhne existiren für den dichter
nicht. Athena ist, wie sie es wirklich im fünften jahrhundert geworden
war, die göttin zugleich und die personification des athenischen staates.
als vorsitzender des gerichts aber übt sie die functionen des jahrkönigs.
sehen wir jedoch genauer zu, so ist nur die beteiligung an der abstim-
mung, gewiss etwas wichtiges und hier ganz unerlässliches, was nicht
ganz ebenso von jedem egemon dikasteriou gelten würde. und so
steht es mit dem ganzen processe. alles was wir als besonders areopagitisch
kennen, ist fern gehalten. das absetzen des kranzes, das richten im
freien, im heiligtume, die steine des verbrechens und der rache, die
feierlichen eidschwüre der parteien, die doppelte verhandlung -- nichts
von all dem kommt vor, und gewiss würde manches dichterischer be-
handlung sich eben so gut angepasst haben wie das abstimmen, stimmen
auswerfen und zählen. die religionen die den Areopag heilig und schauer-
lich machen hat Aischylos in den liedern der Eumeniden unseren herzen
nahe gebracht: aber die erhabenheit und den an die heilige vehme
erinnernden schauder des gerichtes nachzuempfinden muss man Antiphon
lesen. wer für stilunterschiede empfänglich ist, dem muss der abfall

Uebersicht der ganzen scene. die rolle Athenas.
klar, da sie sowol vor der göttin stehend gedacht werden können, wie
auch die göttin während ihrer rede sich an den tisch begeben konnte.
auf jeden fall waren ziemlich viel requisiten in die orchestra gebracht.
nachdem sie gestimmt hat, proclamirt Athena noch ganz kurz das gesetz,
daſs stimmengleichheit freisprechung bedeuten solle und ruft die richter,
denen das aufgetragen ist, herbei, den inhalt der urnen auszuschütten.
die vorletzte seite des Aristotelespapyrus führt uns diese commissare auch
vor, nur daſs 458 weder die ungeschlachten stimmkreisel noch der
durchlöcherte tisch existirte, in den sie gesteckt wurden um gezählt zu
werden. während die steine ausgeschüttet werden, rufen die parteien
ein par worte der erwartung; Apollon fordert die commissare auf,
richtig zu zählen. rasch ist’s getan, denn sie überreichen Athena die
geordneten stimmsteine (so weit dürfen wir der späteren analogie
folgen; es wäre zu töricht, wenn ein statist der göttin das ergebnis leise
mitteilte), die wol auch das publikum sieht: sie proclamirt das ergebnis.
der process ist beendet.

Athena ist der könig von Athen; als solcher handelt sie überhauptDie rolle
Athenas.

und als solcher übt sie den vorsitz des Areopages. der dichter hat durch
weises schweigen dieses drama aus aller chronologie herausgerückt.
Athena kommt zwar vom Skamandros, wo sie das land vermessen hat,
das die Theseussöhne von Agamemnon als ehrensold erhalten haben (402),
d. h. von Sigeion; aber diese Theseussöhne existiren für den dichter
nicht. Athena ist, wie sie es wirklich im fünften jahrhundert geworden
war, die göttin zugleich und die personification des athenischen staates.
als vorsitzender des gerichts aber übt sie die functionen des jahrkönigs.
sehen wir jedoch genauer zu, so ist nur die beteiligung an der abstim-
mung, gewiſs etwas wichtiges und hier ganz unerläſsliches, was nicht
ganz ebenso von jedem ἡγεμὼν δικαστηϱίου gelten würde. und so
steht es mit dem ganzen processe. alles was wir als besonders areopagitisch
kennen, ist fern gehalten. das absetzen des kranzes, das richten im
freien, im heiligtume, die steine des verbrechens und der rache, die
feierlichen eidschwüre der parteien, die doppelte verhandlung — nichts
von all dem kommt vor, und gewiſs würde manches dichterischer be-
handlung sich eben so gut angepaſst haben wie das abstimmen, stimmen
auswerfen und zählen. die religionen die den Areopag heilig und schauer-
lich machen hat Aischylos in den liedern der Eumeniden unseren herzen
nahe gebracht: aber die erhabenheit und den an die heilige vehme
erinnernden schauder des gerichtes nachzuempfinden muſs man Antiphon
lesen. wer für stilunterschiede empfänglich ist, dem muſs der abfall

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[333/0343] Uebersicht der ganzen scene. die rolle Athenas. klar, da sie sowol vor der göttin stehend gedacht werden können, wie auch die göttin während ihrer rede sich an den tisch begeben konnte. auf jeden fall waren ziemlich viel requisiten in die orchestra gebracht. nachdem sie gestimmt hat, proclamirt Athena noch ganz kurz das gesetz, daſs stimmengleichheit freisprechung bedeuten solle und ruft die richter, denen das aufgetragen ist, herbei, den inhalt der urnen auszuschütten. die vorletzte seite des Aristotelespapyrus führt uns diese commissare auch vor, nur daſs 458 weder die ungeschlachten stimmkreisel noch der durchlöcherte tisch existirte, in den sie gesteckt wurden um gezählt zu werden. während die steine ausgeschüttet werden, rufen die parteien ein par worte der erwartung; Apollon fordert die commissare auf, richtig zu zählen. rasch ist’s getan, denn sie überreichen Athena die geordneten stimmsteine (so weit dürfen wir der späteren analogie folgen; es wäre zu töricht, wenn ein statist der göttin das ergebnis leise mitteilte), die wol auch das publikum sieht: sie proclamirt das ergebnis. der process ist beendet. Athena ist der könig von Athen; als solcher handelt sie überhaupt und als solcher übt sie den vorsitz des Areopages. der dichter hat durch weises schweigen dieses drama aus aller chronologie herausgerückt. Athena kommt zwar vom Skamandros, wo sie das land vermessen hat, das die Theseussöhne von Agamemnon als ehrensold erhalten haben (402), d. h. von Sigeion; aber diese Theseussöhne existiren für den dichter nicht. Athena ist, wie sie es wirklich im fünften jahrhundert geworden war, die göttin zugleich und die personification des athenischen staates. als vorsitzender des gerichts aber übt sie die functionen des jahrkönigs. sehen wir jedoch genauer zu, so ist nur die beteiligung an der abstim- mung, gewiſs etwas wichtiges und hier ganz unerläſsliches, was nicht ganz ebenso von jedem ἡγεμὼν δικαστηϱίου gelten würde. und so steht es mit dem ganzen processe. alles was wir als besonders areopagitisch kennen, ist fern gehalten. das absetzen des kranzes, das richten im freien, im heiligtume, die steine des verbrechens und der rache, die feierlichen eidschwüre der parteien, die doppelte verhandlung — nichts von all dem kommt vor, und gewiſs würde manches dichterischer be- handlung sich eben so gut angepaſst haben wie das abstimmen, stimmen auswerfen und zählen. die religionen die den Areopag heilig und schauer- lich machen hat Aischylos in den liedern der Eumeniden unseren herzen nahe gebracht: aber die erhabenheit und den an die heilige vehme erinnernden schauder des gerichtes nachzuempfinden muſs man Antiphon lesen. wer für stilunterschiede empfänglich ist, dem muſs der abfall Die rolle Athenas.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/343>, abgerufen am 19.04.2024.