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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 11. Lysias wider die getreidehändler.
nächster aufsichtsbeamter geheissen hatte. es war unrecht, wenn man
sie büssen liess, es war ein skandal, wenn man sie allein büssen liess.
der redner empfindet das, aber er schlüpft darüber mit der schönen
phrase weg, die schuldigen müssten unter allen umständen bestraft wer-
den; übrigens würden sie sich gar nicht mit der berufung auf Anytos
weissbrennen wollen. das ist eine offenbare unwahrheit; das von ihm
selbst angeführte verhör zeigt es. die entschuldigung des Anytos ist dem
redner selbst nicht sehr triftig erschienen (10), aber er gibt sie doch
des breiteren wieder. sie ist allerdings sehr gewunden und wird erst
in verbindung mit einigen späteren aussagen (17) ganz verständlich. das
gesetz, welches den kornhändlern ein maximum für ihre einkäufe setzte,
war erlassen, um die ansammlung von grossen massen getreides in einer
hand zu verhindern, um die concurrenz zu heben und die weitaussehende
speculation zu unterbinden. sind es viele kleine händler, so leben mehr
davon, und sie können uns nicht die preise machen, dachten diese national-
oekonomen. vielleicht gieng es auch gut in den zeiten, wo überfluss
von zufuhr in den hafen kam. aber wenn nun ein lastschiff langersehnt
ankam und den preis fordern konnte, wie ihm die not gestattete, da
trieben sich die händler in die höhe, froh zu jedem preise ihre 50 körbe
zu erhandeln und sicher dem hungrigen publikum immer noch mehr
abfordern zu können. da waren die schwankungen des preises vielleicht
das peinlichste, und so sehr man fluchte: der händler, der heute seine
50 körbe gut eingekauft hatte, musste plötzlich ungemein aufschlagen,
weil ihm der importeur, dessen schiff im emporion lag, die nächsten 50
um so viel teurer machen konnte. da bekamen die nationaloekonomen
zu fühlen, dass nur der capitalkräftige grosshandel den preisen einige
stätigkeit geben kann. und es war ganz brav, dass der alte volksführer
Anytos die stelle als sitophulax nicht verschmähte, obgleich die volkswut
in den schlechten zeiten den posten lebensgefährlich gemacht hatte. es
war auch sehr verständig, wenn er den getreidehändlern den rat gab
"bildet einen ring gegen die importeure (sunistasthai epi tous em-
porous 17); treibt euch nicht gegenseitig hinauf; wenn sie ankommen,
und ihnen einhellig nur ein und derselbe preis für ihren weizen geboten
wird, müssen sie schon zuschlagen: hinaus aus dem hafen darf das ge-
treide ja nicht". aber das gesetz der 50 körbe? die sache gieng ja
nur, wenn die kornhändler grössere lager halten konnten; sie wollten
doch auch einen profit und einige sicherheit. da liess Anytos das gesetz
schlafen, und eine weile ist es gut gegangen: es hat ihn keiner bei der
euthyna belästigt. das erzählt er nun allerdings nicht vor dem rate,

III. 11. Lysias wider die getreidehändler.
nächster aufsichtsbeamter geheiſsen hatte. es war unrecht, wenn man
sie büſsen lieſs, es war ein skandal, wenn man sie allein büſsen lieſs.
der redner empfindet das, aber er schlüpft darüber mit der schönen
phrase weg, die schuldigen müſsten unter allen umständen bestraft wer-
den; übrigens würden sie sich gar nicht mit der berufung auf Anytos
weiſsbrennen wollen. das ist eine offenbare unwahrheit; das von ihm
selbst angeführte verhör zeigt es. die entschuldigung des Anytos ist dem
redner selbst nicht sehr triftig erschienen (10), aber er gibt sie doch
des breiteren wieder. sie ist allerdings sehr gewunden und wird erst
in verbindung mit einigen späteren aussagen (17) ganz verständlich. das
gesetz, welches den kornhändlern ein maximum für ihre einkäufe setzte,
war erlassen, um die ansammlung von groſsen massen getreides in einer
hand zu verhindern, um die concurrenz zu heben und die weitaussehende
speculation zu unterbinden. sind es viele kleine händler, so leben mehr
davon, und sie können uns nicht die preise machen, dachten diese national-
oekonomen. vielleicht gieng es auch gut in den zeiten, wo überfluſs
von zufuhr in den hafen kam. aber wenn nun ein lastschiff langersehnt
ankam und den preis fordern konnte, wie ihm die not gestattete, da
trieben sich die händler in die höhe, froh zu jedem preise ihre 50 körbe
zu erhandeln und sicher dem hungrigen publikum immer noch mehr
abfordern zu können. da waren die schwankungen des preises vielleicht
das peinlichste, und so sehr man fluchte: der händler, der heute seine
50 körbe gut eingekauft hatte, muſste plötzlich ungemein aufschlagen,
weil ihm der importeur, dessen schiff im ἐμπόϱιον lag, die nächsten 50
um so viel teurer machen konnte. da bekamen die nationaloekonomen
zu fühlen, daſs nur der capitalkräftige groſshandel den preisen einige
stätigkeit geben kann. und es war ganz brav, daſs der alte volksführer
Anytos die stelle als σιτοφύλαξ nicht verschmähte, obgleich die volkswut
in den schlechten zeiten den posten lebensgefährlich gemacht hatte. es
war auch sehr verständig, wenn er den getreidehändlern den rat gab
“bildet einen ring gegen die importeure (συνίστασϑαι ἐπὶ τοὺς ἐμ-
πόϱους 17); treibt euch nicht gegenseitig hinauf; wenn sie ankommen,
und ihnen einhellig nur ein und derselbe preis für ihren weizen geboten
wird, müssen sie schon zuschlagen: hinaus aus dem hafen darf das ge-
treide ja nicht”. aber das gesetz der 50 körbe? die sache gieng ja
nur, wenn die kornhändler gröſsere lager halten konnten; sie wollten
doch auch einen profit und einige sicherheit. da lieſs Anytos das gesetz
schlafen, und eine weile ist es gut gegangen: es hat ihn keiner bei der
euthyna belästigt. das erzählt er nun allerdings nicht vor dem rate,

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[376/0386] III. 11. Lysias wider die getreidehändler. nächster aufsichtsbeamter geheiſsen hatte. es war unrecht, wenn man sie büſsen lieſs, es war ein skandal, wenn man sie allein büſsen lieſs. der redner empfindet das, aber er schlüpft darüber mit der schönen phrase weg, die schuldigen müſsten unter allen umständen bestraft wer- den; übrigens würden sie sich gar nicht mit der berufung auf Anytos weiſsbrennen wollen. das ist eine offenbare unwahrheit; das von ihm selbst angeführte verhör zeigt es. die entschuldigung des Anytos ist dem redner selbst nicht sehr triftig erschienen (10), aber er gibt sie doch des breiteren wieder. sie ist allerdings sehr gewunden und wird erst in verbindung mit einigen späteren aussagen (17) ganz verständlich. das gesetz, welches den kornhändlern ein maximum für ihre einkäufe setzte, war erlassen, um die ansammlung von groſsen massen getreides in einer hand zu verhindern, um die concurrenz zu heben und die weitaussehende speculation zu unterbinden. sind es viele kleine händler, so leben mehr davon, und sie können uns nicht die preise machen, dachten diese national- oekonomen. vielleicht gieng es auch gut in den zeiten, wo überfluſs von zufuhr in den hafen kam. aber wenn nun ein lastschiff langersehnt ankam und den preis fordern konnte, wie ihm die not gestattete, da trieben sich die händler in die höhe, froh zu jedem preise ihre 50 körbe zu erhandeln und sicher dem hungrigen publikum immer noch mehr abfordern zu können. da waren die schwankungen des preises vielleicht das peinlichste, und so sehr man fluchte: der händler, der heute seine 50 körbe gut eingekauft hatte, muſste plötzlich ungemein aufschlagen, weil ihm der importeur, dessen schiff im ἐμπόϱιον lag, die nächsten 50 um so viel teurer machen konnte. da bekamen die nationaloekonomen zu fühlen, daſs nur der capitalkräftige groſshandel den preisen einige stätigkeit geben kann. und es war ganz brav, daſs der alte volksführer Anytos die stelle als σιτοφύλαξ nicht verschmähte, obgleich die volkswut in den schlechten zeiten den posten lebensgefährlich gemacht hatte. es war auch sehr verständig, wenn er den getreidehändlern den rat gab “bildet einen ring gegen die importeure (συνίστασϑαι ἐπὶ τοὺς ἐμ- πόϱους 17); treibt euch nicht gegenseitig hinauf; wenn sie ankommen, und ihnen einhellig nur ein und derselbe preis für ihren weizen geboten wird, müssen sie schon zuschlagen: hinaus aus dem hafen darf das ge- treide ja nicht”. aber das gesetz der 50 körbe? die sache gieng ja nur, wenn die kornhändler gröſsere lager halten konnten; sie wollten doch auch einen profit und einige sicherheit. da lieſs Anytos das gesetz schlafen, und eine weile ist es gut gegangen: es hat ihn keiner bei der euthyna belästigt. das erzählt er nun allerdings nicht vor dem rate,

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/386>, abgerufen am 29.03.2024.