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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Zeit der rede.

Der Panegyrikos ist publicistisch ein werk allerersten ranges. so
hat ihn seine zeit geschätzt, und wer in ihm nichts als die melodischen
perioden hört, verdient den vorwurf nichts als ein rhetor zu sein (und
kaum ein so melodischer) viel mehr als der verfasser. ohne diese
bearbeitung der öffentlichen meinung wäre die stiftung des zweiten
seebundes schlechthin undenkbar gewesen. darum ist das an sich un-
erfreuliche politische leben des vierten jahrhunderts so überaus belehrend,
auch für das politische urteil über moderne dinge, weil sich in ächt-
hellenischer weise die ganze zerfahrene unschöne vielgeschäftige mache
eines grossen pressmanövers in einer rede, in einem kunstwerke con-
densirt. aber weil das kunstwerk in seiner geschlossenheit und seiner
autarkeia vor uns steht, läuft man so leicht gefahr zu vergessen, dass
erst die einsicht in die gesammte politische situation das presserzeugnis
wirklich verständlich macht, wozu einige kenntnisse, einige phantasie und
auch einige politische einsicht nötig ist. so lange uns die steine noch
nicht ermöglicht hatten, die plane und die erfolge des Thrasybulos in
den alten reichsstädten zu erkennen, und die beziehungen Athens zu
Chios im dunkel lagen2), fehlten die nötigen kenntnisse. so lange der
moderne beurteiler den horizont der schulstube oder des hörsaals oder
eines in patriarchalischer bevormundung still lebenden gemeinwesens
von sich auf den redner übertrug, fehlte die möglichkeit des politischen

massen die geschichte seines buches mit dem buche zugleich. die anstösse, die
Iudeich (kleinas. stud. 137) an der herkömmlichen datirung des Panegyrikos nimmt,
erledigen sich so von selbst. die kyprischen dinge aber sind mir noch nicht klar
geworden.
2) Die urkunden lassen keinen zweifel daran, dass Chios gerade wie 412 gegen,
so 395 und 385 für Athen das schwerste gewicht in die wagschale gelegt hat, und
440, im samischen kriege, ist es vermutlich nicht anders gewesen. so wird die
beurteilung des Isokrates gerechtfertigt, die er in sehr bedeutsamer weise 139 ab-
gibt "der Perserkönig hat allerdings durch seinen anschluss an eine der beiden
hellenischen grossmächte dieser das übergewicht gegeben; aber er ist deshalb noch
lange kein an sich furchtbarer gegner, da man genau dasselbe auch von einem
kleinstaat (mikra dunamis) wie Chios sagen kann". wie darin eine schmeichelei für
Chios liegen soll, die gar ein angeblich zur zeit gespanntes verhältnis ins gleiche
bringen sollte (Iudeich 265), ist unerfindlich, viel eher kann man darin die zurück-
weisung von ansprüchen auf gleichberechtigung sehen. aber es ist ja nur die wahr-
heit; Isokrates kannte diese verhältnisse gut, da er in Chios selbst gelebt hatte, was
ich nicht bezweifele. -- es ist dies der paragraph, der das wort epikudes mit
Xenoph. Hell. V 2, 36 gemein hat: weiter nichts, und das kann wirklich nichts be-
weisen. ich bekenne, dass ich mich früher durch die autorität Nitsches habe be-
stimmen lassen, auf den anklang etwas zu geben.
Zeit der rede.

Der Panegyrikos ist publicistisch ein werk allerersten ranges. so
hat ihn seine zeit geschätzt, und wer in ihm nichts als die melodischen
perioden hört, verdient den vorwurf nichts als ein rhetor zu sein (und
kaum ein so melodischer) viel mehr als der verfasser. ohne diese
bearbeitung der öffentlichen meinung wäre die stiftung des zweiten
seebundes schlechthin undenkbar gewesen. darum ist das an sich un-
erfreuliche politische leben des vierten jahrhunderts so überaus belehrend,
auch für das politische urteil über moderne dinge, weil sich in ächt-
hellenischer weise die ganze zerfahrene unschöne vielgeschäftige mache
eines groſsen preſsmanövers in einer rede, in einem kunstwerke con-
densirt. aber weil das kunstwerk in seiner geschlossenheit und seiner
αὐτάϱκεια vor uns steht, läuft man so leicht gefahr zu vergessen, daſs
erst die einsicht in die gesammte politische situation das preſserzeugnis
wirklich verständlich macht, wozu einige kenntnisse, einige phantasie und
auch einige politische einsicht nötig ist. so lange uns die steine noch
nicht ermöglicht hatten, die plane und die erfolge des Thrasybulos in
den alten reichsstädten zu erkennen, und die beziehungen Athens zu
Chios im dunkel lagen2), fehlten die nötigen kenntnisse. so lange der
moderne beurteiler den horizont der schulstube oder des hörsaals oder
eines in patriarchalischer bevormundung still lebenden gemeinwesens
von sich auf den redner übertrug, fehlte die möglichkeit des politischen

maſsen die geschichte seines buches mit dem buche zugleich. die anstöſse, die
Iudeich (kleinas. stud. 137) an der herkömmlichen datirung des Panegyrikos nimmt,
erledigen sich so von selbst. die kyprischen dinge aber sind mir noch nicht klar
geworden.
2) Die urkunden lassen keinen zweifel daran, daſs Chios gerade wie 412 gegen,
so 395 und 385 für Athen das schwerste gewicht in die wagschale gelegt hat, und
440, im samischen kriege, ist es vermutlich nicht anders gewesen. so wird die
beurteilung des Isokrates gerechtfertigt, die er in sehr bedeutsamer weise 139 ab-
gibt “der Perserkönig hat allerdings durch seinen anschluſs an eine der beiden
hellenischen groſsmächte dieser das übergewicht gegeben; aber er ist deshalb noch
lange kein an sich furchtbarer gegner, da man genau dasselbe auch von einem
kleinstaat (μικϱὰ δύναμις) wie Chios sagen kann”. wie darin eine schmeichelei für
Chios liegen soll, die gar ein angeblich zur zeit gespanntes verhältnis ins gleiche
bringen sollte (Iudeich 265), ist unerfindlich, viel eher kann man darin die zurück-
weisung von ansprüchen auf gleichberechtigung sehen. aber es ist ja nur die wahr-
heit; Isokrates kannte diese verhältnisse gut, da er in Chios selbst gelebt hatte, was
ich nicht bezweifele. — es ist dies der paragraph, der das wort ἐπικυδής mit
Xenoph. Hell. V 2, 36 gemein hat: weiter nichts, und das kann wirklich nichts be-
weisen. ich bekenne, daſs ich mich früher durch die autorität Nitsches habe be-
stimmen lassen, auf den anklang etwas zu geben.
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[381/0391] Zeit der rede. Der Panegyrikos ist publicistisch ein werk allerersten ranges. so hat ihn seine zeit geschätzt, und wer in ihm nichts als die melodischen perioden hört, verdient den vorwurf nichts als ein rhetor zu sein (und kaum ein so melodischer) viel mehr als der verfasser. ohne diese bearbeitung der öffentlichen meinung wäre die stiftung des zweiten seebundes schlechthin undenkbar gewesen. darum ist das an sich un- erfreuliche politische leben des vierten jahrhunderts so überaus belehrend, auch für das politische urteil über moderne dinge, weil sich in ächt- hellenischer weise die ganze zerfahrene unschöne vielgeschäftige mache eines groſsen preſsmanövers in einer rede, in einem kunstwerke con- densirt. aber weil das kunstwerk in seiner geschlossenheit und seiner αὐτάϱκεια vor uns steht, läuft man so leicht gefahr zu vergessen, daſs erst die einsicht in die gesammte politische situation das preſserzeugnis wirklich verständlich macht, wozu einige kenntnisse, einige phantasie und auch einige politische einsicht nötig ist. so lange uns die steine noch nicht ermöglicht hatten, die plane und die erfolge des Thrasybulos in den alten reichsstädten zu erkennen, und die beziehungen Athens zu Chios im dunkel lagen 2), fehlten die nötigen kenntnisse. so lange der moderne beurteiler den horizont der schulstube oder des hörsaals oder eines in patriarchalischer bevormundung still lebenden gemeinwesens von sich auf den redner übertrug, fehlte die möglichkeit des politischen 1) 2) Die urkunden lassen keinen zweifel daran, daſs Chios gerade wie 412 gegen, so 395 und 385 für Athen das schwerste gewicht in die wagschale gelegt hat, und 440, im samischen kriege, ist es vermutlich nicht anders gewesen. so wird die beurteilung des Isokrates gerechtfertigt, die er in sehr bedeutsamer weise 139 ab- gibt “der Perserkönig hat allerdings durch seinen anschluſs an eine der beiden hellenischen groſsmächte dieser das übergewicht gegeben; aber er ist deshalb noch lange kein an sich furchtbarer gegner, da man genau dasselbe auch von einem kleinstaat (μικϱὰ δύναμις) wie Chios sagen kann”. wie darin eine schmeichelei für Chios liegen soll, die gar ein angeblich zur zeit gespanntes verhältnis ins gleiche bringen sollte (Iudeich 265), ist unerfindlich, viel eher kann man darin die zurück- weisung von ansprüchen auf gleichberechtigung sehen. aber es ist ja nur die wahr- heit; Isokrates kannte diese verhältnisse gut, da er in Chios selbst gelebt hatte, was ich nicht bezweifele. — es ist dies der paragraph, der das wort ἐπικυδής mit Xenoph. Hell. V 2, 36 gemein hat: weiter nichts, und das kann wirklich nichts be- weisen. ich bekenne, daſs ich mich früher durch die autorität Nitsches habe be- stimmen lassen, auf den anklang etwas zu geben. 1) maſsen die geschichte seines buches mit dem buche zugleich. die anstöſse, die Iudeich (kleinas. stud. 137) an der herkömmlichen datirung des Panegyrikos nimmt, erledigen sich so von selbst. die kyprischen dinge aber sind mir noch nicht klar geworden.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/391>, abgerufen am 28.03.2024.