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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 12. Isokrates Panegyrikos 100--114.
auf Athen hingewiesene partei gegeben. wo anders konnten die armen
Nesioten den rückhalt finden, dessen sie bedurften? wie sollten die
Ionier ohne den handel Athens existiren, zumal Korinth, von dem wir
nur zu wenig hören, durch den krieg vor den mauern und den bürger-
zwist drinnen wirtschaftlich am meisten gelitten haben musste. lediglich
die handelsinteressen zwangen die städte, die sich zum teil schon an
Konon, zum teil an Thrasybulos angeschlossen hatten, trotz dem königs-
frieden mit Athen verträge zu schliessen oder doch die mit Thrasybulos
geschlossenen nach massgabe des königsfriedens neu zu redigiren. es
war für Athen in der tat die einzige rettung, wenn es, zunächst in der
form den königsfrieden wahrend, die fäden der thrasybulischen politik
vorsichtig aufnahm und die alten Reichsstädte möglichst eng sich ver-
band, gleichzeitig aber in Hellas vorsichtig abwartend Sparta gewähren
liess, damit dessen übergriffe negativ für eine neue constellation der
mächte stimmung machten. dazu war zweierlei notwendig, erstens
eine reorganisation der eigenen flotte, die ohne eine eröffnung neuer
steuerquellen unmöglich war; zweitens eine rückeroberung der allge-
meinen sympathien, die der königsfriede verscherzt hatte. und einen
schatz besass Athen immer noch, der in Susa und Sparta nicht nur
fehlte, sondern mit keinen mitteln beschafft werden konnte: seine litte-
ratur. nicht umsonst durfte es die capitale der geistigen bildung sein:
seine litteratur musste die öffentliche meinung gewinnen. diese aufgabe
ist dem Isokrates zugefallen, ihr dient der Panegyrikos, und er hat die
aufgabe glänzend gelöst: zwei jahre später kann der zweite seebund ge-
stiftet werden, wird flotte und steuerwesen reorganisirt. das wort ist
hier der tat vorangeeilt; man kann auch nicht sagen, dass Isokrates die
ideen eines bestimmten staatsmannes verarbeite; das tut er auch in den
reden nicht, die er in den krisen nach dem bundesgenossenkriege und
dem philokratischen frieden schreibt: er hat die empfindung des publi-
cisten für den kommenden wind, mit dem das staatsschiff fahren will.
das ist viel weniger, als er sich selbst zutraute, denn er wähnte, dem
schiffe den curs zu geben. aber es ist doch ungleich mehr als ein
blosser schönschreiber will oder kann.

Ich hätte das alles nicht gerade nötig gehabt zu sagen; aber es verdiente
gesagt zu werden. wir haben es also mit einer politischen gelegenheits-
schrift zu tun, die für Athens seeherrschaft, in welcher form auch immer,
wirken will. die breite schilderung der freiheitskriege von 480 und die
entfesselung des veralteten hasses gegen die barbaren ist allerdings zu
gutem teile phrase; die tatsachen der geschichte seit 412 stehen damit

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auf Athen hingewiesene partei gegeben. wo anders konnten die armen
Nesioten den rückhalt finden, dessen sie bedurften? wie sollten die
Ionier ohne den handel Athens existiren, zumal Korinth, von dem wir
nur zu wenig hören, durch den krieg vor den mauern und den bürger-
zwist drinnen wirtschaftlich am meisten gelitten haben muſste. lediglich
die handelsinteressen zwangen die städte, die sich zum teil schon an
Konon, zum teil an Thrasybulos angeschlossen hatten, trotz dem königs-
frieden mit Athen verträge zu schlieſsen oder doch die mit Thrasybulos
geschlossenen nach maſsgabe des königsfriedens neu zu redigiren. es
war für Athen in der tat die einzige rettung, wenn es, zunächst in der
form den königsfrieden wahrend, die fäden der thrasybulischen politik
vorsichtig aufnahm und die alten Reichsstädte möglichst eng sich ver-
band, gleichzeitig aber in Hellas vorsichtig abwartend Sparta gewähren
lieſs, damit dessen übergriffe negativ für eine neue constellation der
mächte stimmung machten. dazu war zweierlei notwendig, erstens
eine reorganisation der eigenen flotte, die ohne eine eröffnung neuer
steuerquellen unmöglich war; zweitens eine rückeroberung der allge-
meinen sympathien, die der königsfriede verscherzt hatte. und einen
schatz besaſs Athen immer noch, der in Susa und Sparta nicht nur
fehlte, sondern mit keinen mitteln beschafft werden konnte: seine litte-
ratur. nicht umsonst durfte es die capitale der geistigen bildung sein:
seine litteratur muſste die öffentliche meinung gewinnen. diese aufgabe
ist dem Isokrates zugefallen, ihr dient der Panegyrikos, und er hat die
aufgabe glänzend gelöst: zwei jahre später kann der zweite seebund ge-
stiftet werden, wird flotte und steuerwesen reorganisirt. das wort ist
hier der tat vorangeeilt; man kann auch nicht sagen, daſs Isokrates die
ideen eines bestimmten staatsmannes verarbeite; das tut er auch in den
reden nicht, die er in den krisen nach dem bundesgenossenkriege und
dem philokratischen frieden schreibt: er hat die empfindung des publi-
cisten für den kommenden wind, mit dem das staatsschiff fahren will.
das ist viel weniger, als er sich selbst zutraute, denn er wähnte, dem
schiffe den curs zu geben. aber es ist doch ungleich mehr als ein
bloſser schönschreiber will oder kann.

Ich hätte das alles nicht gerade nötig gehabt zu sagen; aber es verdiente
gesagt zu werden. wir haben es also mit einer politischen gelegenheits-
schrift zu tun, die für Athens seeherrschaft, in welcher form auch immer,
wirken will. die breite schilderung der freiheitskriege von 480 und die
entfesselung des veralteten hasses gegen die barbaren ist allerdings zu
gutem teile phrase; die tatsachen der geschichte seit 412 stehen damit

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[384/0394] III. 12. Isokrates Panegyrikos 100—114. auf Athen hingewiesene partei gegeben. wo anders konnten die armen Nesioten den rückhalt finden, dessen sie bedurften? wie sollten die Ionier ohne den handel Athens existiren, zumal Korinth, von dem wir nur zu wenig hören, durch den krieg vor den mauern und den bürger- zwist drinnen wirtschaftlich am meisten gelitten haben muſste. lediglich die handelsinteressen zwangen die städte, die sich zum teil schon an Konon, zum teil an Thrasybulos angeschlossen hatten, trotz dem königs- frieden mit Athen verträge zu schlieſsen oder doch die mit Thrasybulos geschlossenen nach maſsgabe des königsfriedens neu zu redigiren. es war für Athen in der tat die einzige rettung, wenn es, zunächst in der form den königsfrieden wahrend, die fäden der thrasybulischen politik vorsichtig aufnahm und die alten Reichsstädte möglichst eng sich ver- band, gleichzeitig aber in Hellas vorsichtig abwartend Sparta gewähren lieſs, damit dessen übergriffe negativ für eine neue constellation der mächte stimmung machten. dazu war zweierlei notwendig, erstens eine reorganisation der eigenen flotte, die ohne eine eröffnung neuer steuerquellen unmöglich war; zweitens eine rückeroberung der allge- meinen sympathien, die der königsfriede verscherzt hatte. und einen schatz besaſs Athen immer noch, der in Susa und Sparta nicht nur fehlte, sondern mit keinen mitteln beschafft werden konnte: seine litte- ratur. nicht umsonst durfte es die capitale der geistigen bildung sein: seine litteratur muſste die öffentliche meinung gewinnen. diese aufgabe ist dem Isokrates zugefallen, ihr dient der Panegyrikos, und er hat die aufgabe glänzend gelöst: zwei jahre später kann der zweite seebund ge- stiftet werden, wird flotte und steuerwesen reorganisirt. das wort ist hier der tat vorangeeilt; man kann auch nicht sagen, daſs Isokrates die ideen eines bestimmten staatsmannes verarbeite; das tut er auch in den reden nicht, die er in den krisen nach dem bundesgenossenkriege und dem philokratischen frieden schreibt: er hat die empfindung des publi- cisten für den kommenden wind, mit dem das staatsschiff fahren will. das ist viel weniger, als er sich selbst zutraute, denn er wähnte, dem schiffe den curs zu geben. aber es ist doch ungleich mehr als ein bloſser schönschreiber will oder kann. Ich hätte das alles nicht gerade nötig gehabt zu sagen; aber es verdiente gesagt zu werden. wir haben es also mit einer politischen gelegenheits- schrift zu tun, die für Athens seeherrschaft, in welcher form auch immer, wirken will. die breite schilderung der freiheitskriege von 480 und die entfesselung des veralteten hasses gegen die barbaren ist allerdings zu gutem teile phrase; die tatsachen der geschichte seit 412 stehen damit

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/394>, abgerufen am 29.03.2024.