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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 12. Isokrates Panegyrikos 100--114.
eigentlich 478--412) wäre denn auch das ergebnis gewesen, und dem
gegenüber dürfte man nicht auf die kleruchien schelten. die wären viel
eher als garnisonen in verödete städte geschickt, und Skione sogar den
Plataeern abgegeben7): denn dass Athen nicht auf annexionen aus ge-
wesen wäre, sähe man an der verschonung Euboias; andere Hellenen
dankten vielmehr ihren ruhm und ihr bequemes leben der vernichtung
ihrer nachbarn. wohin dies letzte zielt, würde klar sein, auch wenn
nicht der Panathenaikos breit und offen den vorwurf der annexion
Messeniens wider Sparta erhöbe (66). der vorwurf der kleruchien ist
in sehr geschickter weise in die eigene argumentation verwoben, so dass
die eintönige widerlegung der einzelnen punkte vermieden ist. aber
wir warten noch auf die vergleichung einer anderen herrschaft. sie
kommt formell nicht, sondern der angriff richtet sich nun persönlich
gegen die ankläger Athens. "angesichts dieser tatsachen haben leute
die stirn uns anzuklagen, die selbst in den zehnerschaften gewesen sind
und ihre eignen vaterstädte schmählich mishandelt haben. die leute
behaupten lakonische gesinnung zu haben, aber ihre handlungen stehn
damit in widerspruch." und nun wird ein schwall von beschuldigungen
diesen ungenannten anklägern ins gesicht geworfen, die allerdings zumeist
von der art sind, wie sie sich tyrannen und oligarchen immer gefallen
lassen müssen, also auch die Dreissig von Athen. individuell sind zwei
züge: "sie haben einem einzelnen heloten wie sclaven gehorcht, damit
er ihr eigenes vaterland unterjoche" und "sie haben in drei monaten
mehr bürger ohne gericht getötet, als Athen während der ganzen zeit
seiner herrschaft vor sein gericht gezogen hat". diese letzte antithese
hat dem redner so gefallen, dass er sie im Panathenaikos wiederholt
(66), doch so, dass die Lakedaimonier statt der unbestimmten übeltäter
genannt werden. bei wege wird übrigens auch hier der gerichtszwang
der bündner als anklagepunkt gestreift, der in der jüngeren rede breiter
behandelt und gleich an den eingang dieser partie gerückt steht.

Man braucht sich's nur zu überlegen, um zu sehen, dass hier in
wahrheit die erwartete parallele steht, eine andere herrschaft über die-
selben städte, die allerdings geeignet war, selbst die regierungsweise

treter der umgekehrten meinung, weil sie um der zeit willen möglich ist. in wahr-
heit hat das politische leben und die gedankenarbeit der sophistenzeit beiden vor-
gearbeitet, einen urheber des gedankens auch nur zu suchen ist ein müssiges spiel.
7) Das trifft auf die genannten orte und noch ein par, wie Histiaia Poteidaia
Aegina zu, aber auf die mehrzahl nicht, Chersones Naxos Andros Eretria Lesbos:
diese haben offenbar nicht so viel böses blut gemacht.

III. 12. Isokrates Panegyrikos 100—114.
eigentlich 478—412) wäre denn auch das ergebnis gewesen, und dem
gegenüber dürfte man nicht auf die kleruchien schelten. die wären viel
eher als garnisonen in verödete städte geschickt, und Skione sogar den
Plataeern abgegeben7): denn daſs Athen nicht auf annexionen aus ge-
wesen wäre, sähe man an der verschonung Euboias; andere Hellenen
dankten vielmehr ihren ruhm und ihr bequemes leben der vernichtung
ihrer nachbarn. wohin dies letzte zielt, würde klar sein, auch wenn
nicht der Panathenaikos breit und offen den vorwurf der annexion
Messeniens wider Sparta erhöbe (66). der vorwurf der kleruchien ist
in sehr geschickter weise in die eigene argumentation verwoben, so daſs
die eintönige widerlegung der einzelnen punkte vermieden ist. aber
wir warten noch auf die vergleichung einer anderen herrschaft. sie
kommt formell nicht, sondern der angriff richtet sich nun persönlich
gegen die ankläger Athens. “angesichts dieser tatsachen haben leute
die stirn uns anzuklagen, die selbst in den zehnerschaften gewesen sind
und ihre eignen vaterstädte schmählich mishandelt haben. die leute
behaupten lakonische gesinnung zu haben, aber ihre handlungen stehn
damit in widerspruch.” und nun wird ein schwall von beschuldigungen
diesen ungenannten anklägern ins gesicht geworfen, die allerdings zumeist
von der art sind, wie sie sich tyrannen und oligarchen immer gefallen
lassen müssen, also auch die Dreiſsig von Athen. individuell sind zwei
züge: “sie haben einem einzelnen heloten wie sclaven gehorcht, damit
er ihr eigenes vaterland unterjoche” und “sie haben in drei monaten
mehr bürger ohne gericht getötet, als Athen während der ganzen zeit
seiner herrschaft vor sein gericht gezogen hat”. diese letzte antithese
hat dem redner so gefallen, daſs er sie im Panathenaikos wiederholt
(66), doch so, daſs die Lakedaimonier statt der unbestimmten übeltäter
genannt werden. bei wege wird übrigens auch hier der gerichtszwang
der bündner als anklagepunkt gestreift, der in der jüngeren rede breiter
behandelt und gleich an den eingang dieser partie gerückt steht.

Man braucht sich’s nur zu überlegen, um zu sehen, daſs hier in
wahrheit die erwartete parallele steht, eine andere herrschaft über die-
selben städte, die allerdings geeignet war, selbst die regierungsweise

treter der umgekehrten meinung, weil sie um der zeit willen möglich ist. in wahr-
heit hat das politische leben und die gedankenarbeit der sophistenzeit beiden vor-
gearbeitet, einen urheber des gedankens auch nur zu suchen ist ein müssiges spiel.
7) Das trifft auf die genannten orte und noch ein par, wie Histiaia Poteidaia
Aegina zu, aber auf die mehrzahl nicht, Chersones Naxos Andros Eretria Lesbos:
diese haben offenbar nicht so viel böses blut gemacht.
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[386/0396] III. 12. Isokrates Panegyrikos 100—114. eigentlich 478—412) wäre denn auch das ergebnis gewesen, und dem gegenüber dürfte man nicht auf die kleruchien schelten. die wären viel eher als garnisonen in verödete städte geschickt, und Skione sogar den Plataeern abgegeben 7): denn daſs Athen nicht auf annexionen aus ge- wesen wäre, sähe man an der verschonung Euboias; andere Hellenen dankten vielmehr ihren ruhm und ihr bequemes leben der vernichtung ihrer nachbarn. wohin dies letzte zielt, würde klar sein, auch wenn nicht der Panathenaikos breit und offen den vorwurf der annexion Messeniens wider Sparta erhöbe (66). der vorwurf der kleruchien ist in sehr geschickter weise in die eigene argumentation verwoben, so daſs die eintönige widerlegung der einzelnen punkte vermieden ist. aber wir warten noch auf die vergleichung einer anderen herrschaft. sie kommt formell nicht, sondern der angriff richtet sich nun persönlich gegen die ankläger Athens. “angesichts dieser tatsachen haben leute die stirn uns anzuklagen, die selbst in den zehnerschaften gewesen sind und ihre eignen vaterstädte schmählich mishandelt haben. die leute behaupten lakonische gesinnung zu haben, aber ihre handlungen stehn damit in widerspruch.” und nun wird ein schwall von beschuldigungen diesen ungenannten anklägern ins gesicht geworfen, die allerdings zumeist von der art sind, wie sie sich tyrannen und oligarchen immer gefallen lassen müssen, also auch die Dreiſsig von Athen. individuell sind zwei züge: “sie haben einem einzelnen heloten wie sclaven gehorcht, damit er ihr eigenes vaterland unterjoche” und “sie haben in drei monaten mehr bürger ohne gericht getötet, als Athen während der ganzen zeit seiner herrschaft vor sein gericht gezogen hat”. diese letzte antithese hat dem redner so gefallen, daſs er sie im Panathenaikos wiederholt (66), doch so, daſs die Lakedaimonier statt der unbestimmten übeltäter genannt werden. bei wege wird übrigens auch hier der gerichtszwang der bündner als anklagepunkt gestreift, der in der jüngeren rede breiter behandelt und gleich an den eingang dieser partie gerückt steht. Man braucht sich’s nur zu überlegen, um zu sehen, daſs hier in wahrheit die erwartete parallele steht, eine andere herrschaft über die- selben städte, die allerdings geeignet war, selbst die regierungsweise 6) 7) Das trifft auf die genannten orte und noch ein par, wie Histiaia Poteidaia Aegina zu, aber auf die mehrzahl nicht, Chersones Naxos Andros Eretria Lesbos: diese haben offenbar nicht so viel böses blut gemacht. 6) treter der umgekehrten meinung, weil sie um der zeit willen möglich ist. in wahr- heit hat das politische leben und die gedankenarbeit der sophistenzeit beiden vor- gearbeitet, einen urheber des gedankens auch nur zu suchen ist ein müssiges spiel.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/396>, abgerufen am 16.04.2024.