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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Brief 3. brief 2.
welche überlieferung eine sache feststellen kann, so ist der tod in der
ersten woche nach Chaironeia eine feste tatsache.

In den fürchterlichen tagen hat schwerlich jemand viel auf den tod
des alten mannes geachtet. aber als in Korinth Philippos die stellung ein-
nahm, die ihm die publicistik des Isokrates noch in dem Panathenaikos, der
jetzt gerade erschien, zugedacht hatte, die stellung Agamemnons (12,
74--83), da wandte sich ihm das interesse zu, und es war natürlich,
dass man hin und her redete, wie er sich zu der neuen situation gestellt
haben würde. er war an der schlacht von Chaironeia gestorben, doch
so, dass die beiden parteien ihn sich zurechnen konnten, und er war
immerhin der anerkannteste redner und redelehrer der welt. die demo-
kraten, so wenig er ihnen zuletzt hold gewesen war, hatten den besseren
schein für sich; das lag an dem datum des todes. ihre fiction ist das
apophthegma der drei verse: sterbend hat er doch den Philippos als
barbaren stigmatisirt. das presserzeugnis der makedonischen partei ist
der falsche brief. falsch ist er: aus der chronologischen klemme wird
ihn nur die gewalt reissen. aber er ist sehr merkwürdig, weil er falsch
ist. er macht propaganda für die officielle hellenische politik Philipps.
später ihn zu erfinden hatte keinen zweck mehr, nachdem der sohn un-
endlich viel mehr erreicht hatte denn der vater geplant.7) im winter
338/7 war er ein guter contrecoup gegen die durch demokratische fabeln
verstärkte wirkung des todes. wer zählte auch so genau die tage?
Aphareus und Demetrios haben es getan; ob mit derselben absicht, wie
ich hier, muss dahingestellt bleiben.

Der falsche brief tat um so bessere wirkung, wenn bekannt war,Brief 2.
dass Isokrates an den könig öfter geschrieben hatte. seine ächtung zieht
also den zweiten brief mit nichten mit ins verderben, und dass eine
wendung aus diesem (11) in dem falschen (5) wiederkehrt, discreditirt
nur den letzteren. auch der falsche brief an Archidamos (6) hat den
eingang des zweiten benutzt. der inhalt ist überwiegend wirklich ein
persönlicher. der redner warnt, wie ihm alter, berühmtheit und die
durch die grosse rede begründete persönliche beziehung wol verstatteten,
den könig davor, sein leben allzusehr im kampfe auszusetzen und nicht
die pflichten des königs mit denen des soldaten zu verwechseln. es ist

7) Der brief sagt dem Philipp, wenn er den grosskönig besiegt hätte, ouden
estai loipon eti plen theon genesthai. daraus könnte man ableiten wollen, der
brief wäre geschrieben, als Alexander diesen schritt getan hatte. dem kann ich
nicht folgen: das ist eben eine dem Hellenen ganz natürliche steigerung, vgl. I 337.
der verfasser ist höchstens, wenn man will, ein prophet gewesen.

Brief 3. brief 2.
welche überlieferung eine sache feststellen kann, so ist der tod in der
ersten woche nach Chaironeia eine feste tatsache.

In den fürchterlichen tagen hat schwerlich jemand viel auf den tod
des alten mannes geachtet. aber als in Korinth Philippos die stellung ein-
nahm, die ihm die publicistik des Isokrates noch in dem Panathenaikos, der
jetzt gerade erschien, zugedacht hatte, die stellung Agamemnons (12,
74—83), da wandte sich ihm das interesse zu, und es war natürlich,
daſs man hin und her redete, wie er sich zu der neuen situation gestellt
haben würde. er war an der schlacht von Chaironeia gestorben, doch
so, daſs die beiden parteien ihn sich zurechnen konnten, und er war
immerhin der anerkannteste redner und redelehrer der welt. die demo-
kraten, so wenig er ihnen zuletzt hold gewesen war, hatten den besseren
schein für sich; das lag an dem datum des todes. ihre fiction ist das
apophthegma der drei verse: sterbend hat er doch den Philippos als
barbaren stigmatisirt. das preſserzeugnis der makedonischen partei ist
der falsche brief. falsch ist er: aus der chronologischen klemme wird
ihn nur die gewalt reiſsen. aber er ist sehr merkwürdig, weil er falsch
ist. er macht propaganda für die officielle hellenische politik Philipps.
später ihn zu erfinden hatte keinen zweck mehr, nachdem der sohn un-
endlich viel mehr erreicht hatte denn der vater geplant.7) im winter
338/7 war er ein guter contrecoup gegen die durch demokratische fabeln
verstärkte wirkung des todes. wer zählte auch so genau die tage?
Aphareus und Demetrios haben es getan; ob mit derselben absicht, wie
ich hier, muſs dahingestellt bleiben.

Der falsche brief tat um so bessere wirkung, wenn bekannt war,Brief 2.
daſs Isokrates an den könig öfter geschrieben hatte. seine ächtung zieht
also den zweiten brief mit nichten mit ins verderben, und daſs eine
wendung aus diesem (11) in dem falschen (5) wiederkehrt, discreditirt
nur den letzteren. auch der falsche brief an Archidamos (6) hat den
eingang des zweiten benutzt. der inhalt ist überwiegend wirklich ein
persönlicher. der redner warnt, wie ihm alter, berühmtheit und die
durch die groſse rede begründete persönliche beziehung wol verstatteten,
den könig davor, sein leben allzusehr im kampfe auszusetzen und nicht
die pflichten des königs mit denen des soldaten zu verwechseln. es ist

7) Der brief sagt dem Philipp, wenn er den groſskönig besiegt hätte, οὐδὲν
ἔσται λοιπὸν ἔτι πλὴν ϑεὸν γενέσϑαι. daraus könnte man ableiten wollen, der
brief wäre geschrieben, als Alexander diesen schritt getan hatte. dem kann ich
nicht folgen: das ist eben eine dem Hellenen ganz natürliche steigerung, vgl. I 337.
der verfasser ist höchstens, wenn man will, ein prophet gewesen.
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[397/0407] Brief 3. brief 2. welche überlieferung eine sache feststellen kann, so ist der tod in der ersten woche nach Chaironeia eine feste tatsache. In den fürchterlichen tagen hat schwerlich jemand viel auf den tod des alten mannes geachtet. aber als in Korinth Philippos die stellung ein- nahm, die ihm die publicistik des Isokrates noch in dem Panathenaikos, der jetzt gerade erschien, zugedacht hatte, die stellung Agamemnons (12, 74—83), da wandte sich ihm das interesse zu, und es war natürlich, daſs man hin und her redete, wie er sich zu der neuen situation gestellt haben würde. er war an der schlacht von Chaironeia gestorben, doch so, daſs die beiden parteien ihn sich zurechnen konnten, und er war immerhin der anerkannteste redner und redelehrer der welt. die demo- kraten, so wenig er ihnen zuletzt hold gewesen war, hatten den besseren schein für sich; das lag an dem datum des todes. ihre fiction ist das apophthegma der drei verse: sterbend hat er doch den Philippos als barbaren stigmatisirt. das preſserzeugnis der makedonischen partei ist der falsche brief. falsch ist er: aus der chronologischen klemme wird ihn nur die gewalt reiſsen. aber er ist sehr merkwürdig, weil er falsch ist. er macht propaganda für die officielle hellenische politik Philipps. später ihn zu erfinden hatte keinen zweck mehr, nachdem der sohn un- endlich viel mehr erreicht hatte denn der vater geplant. 7) im winter 338/7 war er ein guter contrecoup gegen die durch demokratische fabeln verstärkte wirkung des todes. wer zählte auch so genau die tage? Aphareus und Demetrios haben es getan; ob mit derselben absicht, wie ich hier, muſs dahingestellt bleiben. Der falsche brief tat um so bessere wirkung, wenn bekannt war, daſs Isokrates an den könig öfter geschrieben hatte. seine ächtung zieht also den zweiten brief mit nichten mit ins verderben, und daſs eine wendung aus diesem (11) in dem falschen (5) wiederkehrt, discreditirt nur den letzteren. auch der falsche brief an Archidamos (6) hat den eingang des zweiten benutzt. der inhalt ist überwiegend wirklich ein persönlicher. der redner warnt, wie ihm alter, berühmtheit und die durch die groſse rede begründete persönliche beziehung wol verstatteten, den könig davor, sein leben allzusehr im kampfe auszusetzen und nicht die pflichten des königs mit denen des soldaten zu verwechseln. es ist Brief 2. 7) Der brief sagt dem Philipp, wenn er den groſskönig besiegt hätte, οὐδὲν ἔσται λοιπὸν ἔτι πλὴν ϑεὸν γενέσϑαι. daraus könnte man ableiten wollen, der brief wäre geschrieben, als Alexander diesen schritt getan hatte. dem kann ich nicht folgen: das ist eben eine dem Hellenen ganz natürliche steigerung, vgl. I 337. der verfasser ist höchstens, wenn man will, ein prophet gewesen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/407>, abgerufen am 29.03.2024.