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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 14. Demosthenes prooemium 55.

Was ist das? erstens ist es kein prooemium, denn es fängt mit
der wirklichen behandlung eines wirklichen vorschlages an. es ist ein
bruchstück, denn die behandlung geht über die allgemeine tendenz des
antragstellers nicht hinaus, und der letzte satz ist nicht mehr voll ver-
ständlich "wenn ihr gleichsam eine wage ausstellt, wird schon von selbst
hervortreten (proeisin sc. ex umon) wer etwas (eine berücksichtigung)
verdient" dabei kann man sich nur in vager allgemeinheit etwas denken:
es ist der übergang zu der speciellen behandlung. wir haben hier somit
eine rede, die die unbeschränkte iteration der strategie beseitigen will
und unverblümt zu verstehn gibt, zu tun hätten die meisten strategen ja
doch nichts, und die emolumente dürften nicht bloss wenigen zufliessen.
ich muss eingestehn, dass ich nicht weiss, worin diese emolumente be-
standen und wieweit sie nicht bloss 'usancemässig' waren (vgl. oben
I 196).

Ob man dem Demosthenes die moralische niedrigkeit zutrauen will,
die in der motivierung dieses antrages liegt, mag ich nicht entscheiden:
die torheit, die darin liegt, traue ich ihm nicht zu. aber für seine zeit
trifft denn doch die bedeutungslosigkeit der strategie nicht zu. freilich,
Phokion bekleidete sie fast ständig, und leute wie Chares und Chari-
demos haben geld mit ihr genug gemacht. aber der gedanke, dass der
stratege Athens auf das niveau des archonten hinabgedrückt zu werden
verdiente, konnte wahrlich erst in dem kleinstaate des dritten jahr-
hunderts aufkommen oder geäussert werden. es musste die empeiria
des wirklichen militärs nicht mehr notwendig sein. es fehlt mir an
jedem näheren zeitlichen anhalt. denn dass die astynomen in der ephe-
meren verfassung des Antipatros unterdrückt waren (Dittenberger zu Syll.
337) macht nichts aus. aber für evident und für wichtig halte ich, dass
wir hier ein stück haben, das nicht ein rhetor zusammengestoppelt hat,
um demosthenisch zu schreiben, sondern dass wir etwas von attischer
beredsamkeit aus der zeit des Demochares oder noch späterer besitzen,
die denn allerdings ihren stil demosthenisch drechselte: mit hiaten und
vocabeln und prosametrik kommt man solchen problemen nicht bei.

Gleich vorher steht ein stück ganz derselben art (54). das ist die
formelhafte meldung eines ieropoios, der im namen seiner collegen vor
dem volke über den ausfall der opfer berichtet, die sie an Zeus Soter,
Athena Soteira und Nike gebraucht haben, daneben an Peitho, Götter-
mutter und Apollon (der ohne beinamen in solcher verbindung schwer
denkbar ist), und demgemäss beantragen, das volk möge die bereitwillig-
keit aussprechen, das ergebnis ihrer opfer auf sich zu nehmen.


v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 26
III. 14. Demosthenes prooemium 55.

Was ist das? erstens ist es kein prooemium, denn es fängt mit
der wirklichen behandlung eines wirklichen vorschlages an. es ist ein
bruchstück, denn die behandlung geht über die allgemeine tendenz des
antragstellers nicht hinaus, und der letzte satz ist nicht mehr voll ver-
ständlich “wenn ihr gleichsam eine wage auſstellt, wird schon von selbst
hervortreten (πϱόεισιν sc. ἐξ ὑμῶν) wer etwas (eine berücksichtigung)
verdient” dabei kann man sich nur in vager allgemeinheit etwas denken:
es ist der übergang zu der speciellen behandlung. wir haben hier somit
eine rede, die die unbeschränkte iteration der strategie beseitigen will
und unverblümt zu verstehn gibt, zu tun hätten die meisten strategen ja
doch nichts, und die emolumente dürften nicht bloſs wenigen zuflieſsen.
ich muſs eingestehn, daſs ich nicht weiſs, worin diese emolumente be-
standen und wieweit sie nicht bloſs ‘usancemäſsig’ waren (vgl. oben
I 196).

Ob man dem Demosthenes die moralische niedrigkeit zutrauen will,
die in der motivierung dieses antrages liegt, mag ich nicht entscheiden:
die torheit, die darin liegt, traue ich ihm nicht zu. aber für seine zeit
trifft denn doch die bedeutungslosigkeit der strategie nicht zu. freilich,
Phokion bekleidete sie fast ständig, und leute wie Chares und Chari-
demos haben geld mit ihr genug gemacht. aber der gedanke, daſs der
stratege Athens auf das niveau des archonten hinabgedrückt zu werden
verdiente, konnte wahrlich erst in dem kleinstaate des dritten jahr-
hunderts aufkommen oder geäuſsert werden. es muſste die ἐμπειϱία
des wirklichen militärs nicht mehr notwendig sein. es fehlt mir an
jedem näheren zeitlichen anhalt. denn daſs die astynomen in der ephe-
meren verfassung des Antipatros unterdrückt waren (Dittenberger zu Syll.
337) macht nichts aus. aber für evident und für wichtig halte ich, daſs
wir hier ein stück haben, das nicht ein rhetor zusammengestoppelt hat,
um demosthenisch zu schreiben, sondern daſs wir etwas von attischer
beredsamkeit aus der zeit des Demochares oder noch späterer besitzen,
die denn allerdings ihren stil demosthenisch drechselte: mit hiaten und
vocabeln und prosametrik kommt man solchen problemen nicht bei.

Gleich vorher steht ein stück ganz derselben art (54). das ist die
formelhafte meldung eines ἱεϱοποιός, der im namen seiner collegen vor
dem volke über den ausfall der opfer berichtet, die sie an Zeus Soter,
Athena Soteira und Nike gebraucht haben, daneben an Peitho, Götter-
mutter und Apollon (der ohne beinamen in solcher verbindung schwer
denkbar ist), und demgemäſs beantragen, das volk möge die bereitwillig-
keit aussprechen, das ergebnis ihrer opfer auf sich zu nehmen.


v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 26
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[401/0411] III. 14. Demosthenes prooemium 55. Was ist das? erstens ist es kein prooemium, denn es fängt mit der wirklichen behandlung eines wirklichen vorschlages an. es ist ein bruchstück, denn die behandlung geht über die allgemeine tendenz des antragstellers nicht hinaus, und der letzte satz ist nicht mehr voll ver- ständlich “wenn ihr gleichsam eine wage auſstellt, wird schon von selbst hervortreten (πϱόεισιν sc. ἐξ ὑμῶν) wer etwas (eine berücksichtigung) verdient” dabei kann man sich nur in vager allgemeinheit etwas denken: es ist der übergang zu der speciellen behandlung. wir haben hier somit eine rede, die die unbeschränkte iteration der strategie beseitigen will und unverblümt zu verstehn gibt, zu tun hätten die meisten strategen ja doch nichts, und die emolumente dürften nicht bloſs wenigen zuflieſsen. ich muſs eingestehn, daſs ich nicht weiſs, worin diese emolumente be- standen und wieweit sie nicht bloſs ‘usancemäſsig’ waren (vgl. oben I 196). Ob man dem Demosthenes die moralische niedrigkeit zutrauen will, die in der motivierung dieses antrages liegt, mag ich nicht entscheiden: die torheit, die darin liegt, traue ich ihm nicht zu. aber für seine zeit trifft denn doch die bedeutungslosigkeit der strategie nicht zu. freilich, Phokion bekleidete sie fast ständig, und leute wie Chares und Chari- demos haben geld mit ihr genug gemacht. aber der gedanke, daſs der stratege Athens auf das niveau des archonten hinabgedrückt zu werden verdiente, konnte wahrlich erst in dem kleinstaate des dritten jahr- hunderts aufkommen oder geäuſsert werden. es muſste die ἐμπειϱία des wirklichen militärs nicht mehr notwendig sein. es fehlt mir an jedem näheren zeitlichen anhalt. denn daſs die astynomen in der ephe- meren verfassung des Antipatros unterdrückt waren (Dittenberger zu Syll. 337) macht nichts aus. aber für evident und für wichtig halte ich, daſs wir hier ein stück haben, das nicht ein rhetor zusammengestoppelt hat, um demosthenisch zu schreiben, sondern daſs wir etwas von attischer beredsamkeit aus der zeit des Demochares oder noch späterer besitzen, die denn allerdings ihren stil demosthenisch drechselte: mit hiaten und vocabeln und prosametrik kommt man solchen problemen nicht bei. Gleich vorher steht ein stück ganz derselben art (54). das ist die formelhafte meldung eines ἱεϱοποιός, der im namen seiner collegen vor dem volke über den ausfall der opfer berichtet, die sie an Zeus Soter, Athena Soteira und Nike gebraucht haben, daneben an Peitho, Götter- mutter und Apollon (der ohne beinamen in solcher verbindung schwer denkbar ist), und demgemäſs beantragen, das volk möge die bereitwillig- keit aussprechen, das ergebnis ihrer opfer auf sich zu nehmen. v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 26

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/411>, abgerufen am 29.03.2024.