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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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VORWORT

Als ich vor 22 jahren das kleine katheder des betsaales bestieg, um
abschied von der Pforte zu nehmen, überreichte ich ihr nach alter guter
sitte eine valedictionsarbeit, die das motto trug, das ich heute wiederhole.
es war und ist ein gelübde für's leben: den Musen und auch der alten
schule werde ich die treue halten. die abhandlung selbst gieng die
griechische tragödie an und war natürlich ein geschreibsel, ganz so grün
wie ihr verfasser. der würde tief unglücklich geworden sein, hätte er
geahnt, wie bald er so urteilen würde; aber im stillen herzen gelobte
er sich doch, wenn er ein mann würde, der Pforte ein buch zu widmen,
das denselben gegenstand wissenschaftlich behandelte. dies gelöbnis würde
er nie ausgesprochen haben, wenn er es nicht zugleich erfüllte. er tut
es heut, indem er das drama, aus dem er damals das motto nahm, er-
läutert, und ein buch veröffentlicht, das vor allem so grünen aber von
den Musen begeisterten jünglingen, wie er damals einer war, das ver-
ständnis der tragödie erschliessen soll.

Denn geplant und begonnen habe ich dieses buch zunächst nicht
um neue forschungen vorzutragen, sondern um das verständnis der tra-
gödie, das doch gemeinbesitz der wissenschaft ist, zu vermitteln. nun
ist freilich etwas ganz anderes herausgekommen, das jenen zweck viel-
leicht nicht mehr so gut erfüllt, jedenfalls ein anorganisches gebilde,
dem ich zur entschuldigung seine entstehungsgeschichte mit auf den weg
geben muss.

Meine wissenschaftliche arbeit ist von der tragödie ausgegangen, und
mich interessirte zu anfang das meiste nur entsprechend dem, wie ich

VORWORT

Als ich vor 22 jahren das kleine katheder des betsaales bestieg, um
abschied von der Pforte zu nehmen, überreichte ich ihr nach alter guter
sitte eine valedictionsarbeit, die das motto trug, das ich heute wiederhole.
es war und ist ein gelübde für’s leben: den Musen und auch der alten
schule werde ich die treue halten. die abhandlung selbst gieng die
griechische tragödie an und war natürlich ein geschreibsel, ganz so grün
wie ihr verfasser. der würde tief unglücklich geworden sein, hätte er
geahnt, wie bald er so urteilen würde; aber im stillen herzen gelobte
er sich doch, wenn er ein mann würde, der Pforte ein buch zu widmen,
das denselben gegenstand wissenschaftlich behandelte. dies gelöbnis würde
er nie ausgesprochen haben, wenn er es nicht zugleich erfüllte. er tut
es heut, indem er das drama, aus dem er damals das motto nahm, er-
läutert, und ein buch veröffentlicht, das vor allem so grünen aber von
den Musen begeisterten jünglingen, wie er damals einer war, das ver-
ständnis der tragödie erschlieſsen soll.

Denn geplant und begonnen habe ich dieses buch zunächst nicht
um neue forschungen vorzutragen, sondern um das verständnis der tra-
gödie, das doch gemeinbesitz der wissenschaft ist, zu vermitteln. nun
ist freilich etwas ganz anderes herausgekommen, das jenen zweck viel-
leicht nicht mehr so gut erfüllt, jedenfalls ein anorganisches gebilde,
dem ich zur entschuldigung seine entstehungsgeschichte mit auf den weg
geben muſs.

Meine wissenschaftliche arbeit ist von der tragödie ausgegangen, und
mich interessirte zu anfang das meiste nur entsprechend dem, wie ich

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. [VII]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/15>, abgerufen am 28.03.2024.