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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geistige entwickelung.
natur während der gährenden jugendzeit vorhanden sein müssen, in den
systemen seiner chronologen widergespiegelt. man weiss es wol, dass nur
seine persönlichste entwickelung die reihenfolge der jugendwerke be-
stimmt hat: jetzt fehlen die äusseren daten und in das innere kann niemand
dringen. die meisten grossen denker der älteren zeit treten uns nur als
die hinter ihrem einen werke verschwindenden verfasser entgegen, als
ausgereift, auch wenn sie, wie Anaxagoras, die herausgabe des buches
lange überleben. von Sophokles erscheint uns die Antigone fast als
jugendwerk, weil er alle andern erhaltenen dramen als greis verfasst
hat, und doch war er in den funfzigern als er jene schrieb. und auch
von Euripides haben wir nur werke aus reifer zeit: der Phaethon wird
wol das älteste kenntliche sein, aber auch das ist nur erschlossen, weil
es so stark von den erhaltenen absticht 31). wir können uns ein eigenes
urteil über die entwickelungsjahre dieses dichters auch nicht bilden.

Aber einige nachrichten treten ein. da ist vorab eine fabel zu ent-
fernen. er soll in gymnastischen kampfspielen gesiegt haben, weil ihn
sein vater zum athleten ausbilden wollte, auf grund eines orakels, das
ihm siege in agonen verhiess. die geschichte, gebaut auf den doppelsinn
der agones, ist eine wandergeschichte, bestimmt, göttliche vorsehung
und menschliche kurzsichtigkeit zu illustriren. Herodot (9, 33) hat sie
sich von einem seher als selbsterlebt erzählen lassen, der auch kampf-
spiele verstand, wo der gott kämpfe gemeint hatte. als sie auf den
unterschied der musischen und gymnischen wettspiele übertragen ward,
griff man einfach den berühmtesten scenischen dichter auf und knüpfte
sie an seinen namen. denn damit würde man dem erfinder zu viel ehre
antun, wenn man meinen wollte, er habe die notorische verachtung der
gymnastik, welche Euripides zeigt, aber, wie auch im altertum bemerkt ist,
im anschluss an Xenophanes ausspricht, aus bösen jugenderfahrungen ab-
leiten wollen. übrigens ist die geschichte nicht vor dem zweiten jahrhundert
erfunden, da sie die der alten zeit fremden Theseen erwähnt 32). mindestens
nicht aus den fingern gesogen, sondern durch ein document belegt und
also von einem achtungswerten forscher, wahrscheinlich Philochoros 33)

31) Sehr auffällig ist, dass die nicht ganz wenigen trimeter der Peliaden, des
ersten dramas, weder im versbau, noch in der diction, noch in den schon sehr sen-
tentiös und allgemein gehaltenen gedanken eine abweichung von der späteren
weise des dichters zeigen.
32) In dem berichte des Gellius, der nur vollständiger und reiner, kein anderer
ist als der im genos und gelegentlichen anführungen.
33) Megara ist 306 und um 264 zerstört worden; es ist unwahrscheinlich, dass
ein archaischer pinax sich länger erhalten hätte. Pausanias weiss nichts davon.
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Geistige entwickelung.
natur während der gährenden jugendzeit vorhanden sein müssen, in den
systemen seiner chronologen widergespiegelt. man weiſs es wol, daſs nur
seine persönlichste entwickelung die reihenfolge der jugendwerke be-
stimmt hat: jetzt fehlen die äuſseren daten und in das innere kann niemand
dringen. die meisten groſsen denker der älteren zeit treten uns nur als
die hinter ihrem einen werke verschwindenden verfasser entgegen, als
ausgereift, auch wenn sie, wie Anaxagoras, die herausgabe des buches
lange überleben. von Sophokles erscheint uns die Antigone fast als
jugendwerk, weil er alle andern erhaltenen dramen als greis verfaſst
hat, und doch war er in den funfzigern als er jene schrieb. und auch
von Euripides haben wir nur werke aus reifer zeit: der Phaethon wird
wol das älteste kenntliche sein, aber auch das ist nur erschlossen, weil
es so stark von den erhaltenen absticht 31). wir können uns ein eigenes
urteil über die entwickelungsjahre dieses dichters auch nicht bilden.

Aber einige nachrichten treten ein. da ist vorab eine fabel zu ent-
fernen. er soll in gymnastischen kampfspielen gesiegt haben, weil ihn
sein vater zum athleten ausbilden wollte, auf grund eines orakels, das
ihm siege in agonen verhieſs. die geschichte, gebaut auf den doppelsinn
der ἀγῶνες, ist eine wandergeschichte, bestimmt, göttliche vorsehung
und menschliche kurzsichtigkeit zu illustriren. Herodot (9, 33) hat sie
sich von einem seher als selbsterlebt erzählen lassen, der auch kampf-
spiele verstand, wo der gott kämpfe gemeint hatte. als sie auf den
unterschied der musischen und gymnischen wettspiele übertragen ward,
griff man einfach den berühmtesten scenischen dichter auf und knüpfte
sie an seinen namen. denn damit würde man dem erfinder zu viel ehre
antun, wenn man meinen wollte, er habe die notorische verachtung der
gymnastik, welche Euripides zeigt, aber, wie auch im altertum bemerkt ist,
im anschluſs an Xenophanes ausspricht, aus bösen jugenderfahrungen ab-
leiten wollen. übrigens ist die geschichte nicht vor dem zweiten jahrhundert
erfunden, da sie die der alten zeit fremden Theseen erwähnt 32). mindestens
nicht aus den fingern gesogen, sondern durch ein document belegt und
also von einem achtungswerten forscher, wahrscheinlich Philochoros 33)

31) Sehr auffällig ist, daſs die nicht ganz wenigen trimeter der Peliaden, des
ersten dramas, weder im versbau, noch in der diction, noch in den schon sehr sen-
tentiös und allgemein gehaltenen gedanken eine abweichung von der späteren
weise des dichters zeigen.
32) In dem berichte des Gellius, der nur vollständiger und reiner, kein anderer
ist als der im γένος und gelegentlichen anführungen.
33) Megara ist 306 und um 264 zerstört worden; es ist unwahrscheinlich, daſs
ein archaischer πίναξ sich länger erhalten hätte. Pausanias weiſs nichts davon.
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/39>, abgerufen am 19.04.2024.