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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Das leben des Euripides.
aufgebracht ist dagegen die merkwürdige angabe, dass Euripides in der
jugend maler gewesen wäre und in Megara eine von ihm bemalte ton-
tafel gezeigt würde. solche pinakes haben wir jetzt selbst genug, um
uns eine vorstellung machen zu können; auch künstlerinschriften tragen
sie zuweilen. aber so sicher man annehmen wird, dass in irgend einem
heiligtum Megaras ein solches werk euripideischer zeit vorhanden war
mit der künstlerinschrift Eiripides Athenaios egrapse, so unwahr-
scheinlich ist es, dass der vatersname dabei stand, und dann ist die autor-
schaft des späteren tragikers sehr unsicher. im allgemeinen jedoch muss
zugestanden werden, dass der gewaltige aufschwung, den die malerei in
Athen während der jugendjahre des Euripides nahm, einen künstlerisch
begabten knaben sehr wol reizen konnte. wenn er ihn denn beschritten
hat, so hat dieser irrweg, von dem er bald zurückkam, kenntliche spuren
in der poesie des Euripides nicht hinterlassen.

Gelernt musste auch die poesie werden. noch war sie zu ihrem
glücke so schwer, dass ein dilettant, der nichts als die allgemeine schul-
bildung hatte, die finger davon lassen musste, und ein zweites glück war
es, dass es noch keine handbücher gab 34). der jugendunterricht gipfelte
allerdings darin, dass er den schatz der classischen poesie den knaben
fest und unverlierbar für das leben einprägte; dabei lernten sie die ihnen
ausnahmslos fremden mundarten der poesie und lernten die weisen der
grossen dichter singen und sagen. das befähigte sie dann als erwachsene
die tragödien und die dithyramben zu verstehen, und das war nicht
wenig. sie mochten wol auch einmal vor liebchens tür oder beim rund-
gesang einen vers eigner fabrik auf die alte weise versuchen, auch für

34) Am ende des 5. jahrh. hat es technische schriften über landwirtschaft
u. dgl., auch kochbücher gegeben. die medicinische litteratur, die am besten be-
kannte, geht, so weit sie nicht ein erzeugnis der sophistik ist, auf kurze regeln
zurück, prognoseis, prorretika u. dgl., die nur ein hilfsmittel mündlicher unter-
weisung sind. und natürlich besass jeder der ein handwerk übte seine papiere, die
er als einen wertvollen schatz seinem nachfolger vermachte, der koch oder arzt
recepte, der seher formulare für sprüche und spruchdeutung (Isokrates 19, 5 tas
biblous tas peri mantikes). aber buchmässiger vertrieb bestand für diese dinge nicht
und die schriftstellerei der sophistik behandelt eben das technische nicht. das ändert
sich erst um und nach 400, wo Simon und Xenophon über pferdezucht, Chares und
Apollodoros über landbau, Hippokrates und Polybos über medicin technisch schreiben.
und trotzdem redet man noch immer so, als hätte Sophokles eine aesthetische ab-
handlung über den chor wider Phrynichos schreiben können (Suid. s. v.), etwa wie
Schiller vor der braut von Messina oder wie Seneca und Pomponius ihren tragödien
praefationes gaben. es ist eine fiction wie die technischen schriften uralter bau-
meister, von denen Vitruv redet.

Das leben des Euripides.
aufgebracht ist dagegen die merkwürdige angabe, daſs Euripides in der
jugend maler gewesen wäre und in Megara eine von ihm bemalte ton-
tafel gezeigt würde. solche πίνακες haben wir jetzt selbst genug, um
uns eine vorstellung machen zu können; auch künstlerinschriften tragen
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Athen während der jugendjahre des Euripides nahm, einen künstlerisch
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hat, so hat dieser irrweg, von dem er bald zurückkam, kenntliche spuren
in der poesie des Euripides nicht hinterlassen.

Gelernt muſste auch die poesie werden. noch war sie zu ihrem
glücke so schwer, daſs ein dilettant, der nichts als die allgemeine schul-
bildung hatte, die finger davon lassen muſste, und ein zweites glück war
es, daſs es noch keine handbücher gab 34). der jugendunterricht gipfelte
allerdings darin, daſs er den schatz der classischen poesie den knaben
fest und unverlierbar für das leben einprägte; dabei lernten sie die ihnen
ausnahmslos fremden mundarten der poesie und lernten die weisen der
groſsen dichter singen und sagen. das befähigte sie dann als erwachsene
die tragödien und die dithyramben zu verstehen, und das war nicht
wenig. sie mochten wol auch einmal vor liebchens tür oder beim rund-
gesang einen vers eigner fabrik auf die alte weise versuchen, auch für

34) Am ende des 5. jahrh. hat es technische schriften über landwirtschaft
u. dgl., auch kochbücher gegeben. die medicinische litteratur, die am besten be-
kannte, geht, so weit sie nicht ein erzeugnis der sophistik ist, auf kurze regeln
zurück, προγνώσεις, προρρητικά u. dgl., die nur ein hilfsmittel mündlicher unter-
weisung sind. und natürlich besaſs jeder der ein handwerk übte seine papiere, die
er als einen wertvollen schatz seinem nachfolger vermachte, der koch oder arzt
recepte, der seher formulare für sprüche und spruchdeutung (Isokrates 19, 5 τὰς
βίβλους τὰς περὶ μαντικῆς). aber buchmäſsiger vertrieb bestand für diese dinge nicht
und die schriftstellerei der sophistik behandelt eben das technische nicht. das ändert
sich erst um und nach 400, wo Simon und Xenophon über pferdezucht, Chares und
Apollodoros über landbau, Hippokrates und Polybos über medicin technisch schreiben.
und trotzdem redet man noch immer so, als hätte Sophokles eine aesthetische ab-
handlung über den chor wider Phrynichos schreiben können (Suid. s. v.), etwa wie
Schiller vor der braut von Messina oder wie Seneca und Pomponius ihren tragödien
praefationes gaben. es ist eine fiction wie die technischen schriften uralter bau-
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/40>, abgerufen am 19.04.2024.