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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Nachwirkung des dramas.
einzelgeschichten hat sich aber selbst die erste gehalten. den Lykos hat
man dagegen allgemein festhalten können und hat es getan. die bildende
kunst hat weder das sophokleische noch das euripideische drama berück-
sichtigt: sie hat die entscheidenden anregungen für die bearbeitung der
Heraklessage schon von der archaischen zeit erhalten, und die Heraklesver-
ehrer hatten auch in späterer keine veranlassung gerade diese gegenstände
dargestellt zu wünschen. dagegen hat die poesie in dem euripideischen
werke stark gewirkt; es gehörte zu den zwar nicht in der schule behan-
delten, aber doch zu den viel gelesenen, und wenn es uns also auch nur ein
glücklicher zufall erhalten hat, so würden wir es doch in seinen wesent-
lichen zügen wieder herstellen können.

Dies zu zeigen hat mehr wert als die stellen zu häufen, welche eine
beeinflussung durch Euripides verraten63). für ihn selbst lernt man frei-
lich auch dadurch nichts, aber es dürfte etwas für uns beherzigenswertes
herauskommen.

Denken wir also einmal, der Herakles wäre selbst verloren, und wir
wollten ihn aus den bruchstücken herstellen. was würden wir erreichen?
der titel Erakles zunächst sagt gar nichts. dass Herakles in der raserei
sich einbildet zu wagen zu fahren, berichtet Dion (32, 94) und führt
v. 947--49, allerdings entstellt, an, aus denen sicher zu entnehmen ist,
dass die raserei erzählt ward. eben diesen zug hebt Philostratos (Imag. 2, 23)
hervor, und da dieser rhetor auch noch für andere einzelheiten, die ein-
führung einer Erinys (wie er für Lyssa sagt) und die fesselung des
Herakles, sich auf die bühne und die dichter beruft, so haben wir das
recht sein ganzes angebliches gemälde in die poesie zurückzuübersetzen,
aus der er es zusammengestümpert hat. so gewinnen wir den inhalt des
botenberichtes: Herakles gerät beim opfern in wahnsinn, glaubt nach
Mykene zu fahren und die Eurystheuskinder zu töten, tötet aber Megara
und seine söhne. erst erschiesst er zwei (dabei würden wir also die feinere
abwechselung des Euripides verlieren, der einen sohn erschlagen lässt),
dann die mutter mit dem jüngsten, die sich in ein gemach geflüchtet
hat. sein gesinde versucht ihn vergeblich zurück zu halten; schliesslich
haben sie ihn aber doch gebunden. ausserdem ist die personification des

63) Nur auf eins sei hingewiesen, Antikleides, ein merkwürdiger, weil nicht
leicht in die fächer unserer litteraturgeschichte einzuordnender mann, der sowol die
sagengeschichte wie die Alexanders behandelt hat, erzählt, dass Herakles nach voll-
endung seiner arbeiten von Eurystheus zu einem opferschmaus geladen wird, und,
weil er eine zu kleine portion bekommt, drei söhne des Eurystheus erschlägt, deren
namen Antikleides natürlich anzugeben weiss (Athen. 157f): das ist eine deutliche
entlehnung aus Euripides. ein buch, in dem das stehen konnte, war ein roman.
v. Wilamowitz I. 25

Nachwirkung des dramas.
einzelgeschichten hat sich aber selbst die erste gehalten. den Lykos hat
man dagegen allgemein festhalten können und hat es getan. die bildende
kunst hat weder das sophokleische noch das euripideische drama berück-
sichtigt: sie hat die entscheidenden anregungen für die bearbeitung der
Heraklessage schon von der archaischen zeit erhalten, und die Heraklesver-
ehrer hatten auch in späterer keine veranlassung gerade diese gegenstände
dargestellt zu wünschen. dagegen hat die poesie in dem euripideischen
werke stark gewirkt; es gehörte zu den zwar nicht in der schule behan-
delten, aber doch zu den viel gelesenen, und wenn es uns also auch nur ein
glücklicher zufall erhalten hat, so würden wir es doch in seinen wesent-
lichen zügen wieder herstellen können.

Dies zu zeigen hat mehr wert als die stellen zu häufen, welche eine
beeinflussung durch Euripides verraten63). für ihn selbst lernt man frei-
lich auch dadurch nichts, aber es dürfte etwas für uns beherzigenswertes
herauskommen.

Denken wir also einmal, der Herakles wäre selbst verloren, und wir
wollten ihn aus den bruchstücken herstellen. was würden wir erreichen?
der titel Ἡρακλῆς zunächst sagt gar nichts. daſs Herakles in der raserei
sich einbildet zu wagen zu fahren, berichtet Dion (32, 94) und führt
v. 947—49, allerdings entstellt, an, aus denen sicher zu entnehmen ist,
daſs die raserei erzählt ward. eben diesen zug hebt Philostratos (Imag. 2, 23)
hervor, und da dieser rhetor auch noch für andere einzelheiten, die ein-
führung einer Erinys (wie er für Lyssa sagt) und die fesselung des
Herakles, sich auf die bühne und die dichter beruft, so haben wir das
recht sein ganzes angebliches gemälde in die poesie zurückzuübersetzen,
aus der er es zusammengestümpert hat. so gewinnen wir den inhalt des
botenberichtes: Herakles gerät beim opfern in wahnsinn, glaubt nach
Mykene zu fahren und die Eurystheuskinder zu töten, tötet aber Megara
und seine söhne. erst erschieſst er zwei (dabei würden wir also die feinere
abwechselung des Euripides verlieren, der einen sohn erschlagen läſst),
dann die mutter mit dem jüngsten, die sich in ein gemach geflüchtet
hat. sein gesinde versucht ihn vergeblich zurück zu halten; schlieſslich
haben sie ihn aber doch gebunden. auſserdem ist die personification des

63) Nur auf eins sei hingewiesen, Antikleides, ein merkwürdiger, weil nicht
leicht in die fächer unserer litteraturgeschichte einzuordnender mann, der sowol die
sagengeschichte wie die Alexanders behandelt hat, erzählt, daſs Herakles nach voll-
endung seiner arbeiten von Eurystheus zu einem opferschmaus geladen wird, und,
weil er eine zu kleine portion bekommt, drei söhne des Eurystheus erschlägt, deren
namen Antikleides natürlich anzugeben weiſs (Athen. 157f): das ist eine deutliche
entlehnung aus Euripides. ein buch, in dem das stehen konnte, war ein roman.
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[385/0405] Nachwirkung des dramas. einzelgeschichten hat sich aber selbst die erste gehalten. den Lykos hat man dagegen allgemein festhalten können und hat es getan. die bildende kunst hat weder das sophokleische noch das euripideische drama berück- sichtigt: sie hat die entscheidenden anregungen für die bearbeitung der Heraklessage schon von der archaischen zeit erhalten, und die Heraklesver- ehrer hatten auch in späterer keine veranlassung gerade diese gegenstände dargestellt zu wünschen. dagegen hat die poesie in dem euripideischen werke stark gewirkt; es gehörte zu den zwar nicht in der schule behan- delten, aber doch zu den viel gelesenen, und wenn es uns also auch nur ein glücklicher zufall erhalten hat, so würden wir es doch in seinen wesent- lichen zügen wieder herstellen können. Dies zu zeigen hat mehr wert als die stellen zu häufen, welche eine beeinflussung durch Euripides verraten 63). für ihn selbst lernt man frei- lich auch dadurch nichts, aber es dürfte etwas für uns beherzigenswertes herauskommen. Denken wir also einmal, der Herakles wäre selbst verloren, und wir wollten ihn aus den bruchstücken herstellen. was würden wir erreichen? der titel Ἡρακλῆς zunächst sagt gar nichts. daſs Herakles in der raserei sich einbildet zu wagen zu fahren, berichtet Dion (32, 94) und führt v. 947—49, allerdings entstellt, an, aus denen sicher zu entnehmen ist, daſs die raserei erzählt ward. eben diesen zug hebt Philostratos (Imag. 2, 23) hervor, und da dieser rhetor auch noch für andere einzelheiten, die ein- führung einer Erinys (wie er für Lyssa sagt) und die fesselung des Herakles, sich auf die bühne und die dichter beruft, so haben wir das recht sein ganzes angebliches gemälde in die poesie zurückzuübersetzen, aus der er es zusammengestümpert hat. so gewinnen wir den inhalt des botenberichtes: Herakles gerät beim opfern in wahnsinn, glaubt nach Mykene zu fahren und die Eurystheuskinder zu töten, tötet aber Megara und seine söhne. erst erschieſst er zwei (dabei würden wir also die feinere abwechselung des Euripides verlieren, der einen sohn erschlagen läſst), dann die mutter mit dem jüngsten, die sich in ein gemach geflüchtet hat. sein gesinde versucht ihn vergeblich zurück zu halten; schlieſslich haben sie ihn aber doch gebunden. auſserdem ist die personification des 63) Nur auf eins sei hingewiesen, Antikleides, ein merkwürdiger, weil nicht leicht in die fächer unserer litteraturgeschichte einzuordnender mann, der sowol die sagengeschichte wie die Alexanders behandelt hat, erzählt, daſs Herakles nach voll- endung seiner arbeiten von Eurystheus zu einem opferschmaus geladen wird, und, weil er eine zu kleine portion bekommt, drei söhne des Eurystheus erschlägt, deren namen Antikleides natürlich anzugeben weiſs (Athen. 157f): das ist eine deutliche entlehnung aus Euripides. ein buch, in dem das stehen konnte, war ein roman. v. Wilamowitz I. 25

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/405>, abgerufen am 23.04.2024.