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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
in Unterricht des Wesentlichen bestände, und in welcher nicht blos Kennt-
nisse zum Wissen, sondern auch Lehren zum Ausüben vorgetragen würden.
Die Abhandlung von der Kunst der Aegypter, der Hetrurier, und anderer
Völker, kann unsere Begriffe erweitern, und zur Richtigkeit im Urtheil füh-
ren; die von den Griechen aber soll suchen, dieselben auf Eins und auf das
Wahre zu bestimmen, zur Regel im Urtheilen und im Wirken.

Diese Abhandlung über die Kunst der Griechen bestehet aus vier
Stücken: Das erste und vorläufige handelt von den Gründen und Ursa-
chen des Aufnehmens und des Vorzugs der Griechischen Kunst vor ande-
ren Völkern; das zweyte von dem Wesentlichen der Kunst; das dritte von
dem Wachsthume, und von dem Falle derselben; und das vierte von dem
Mechanischen Theile der Kunst. Den Beschluß dieses Capitels macht eine
Betrachtung über die Malereyen aus dem Alterthume.

Die Ursache und der Grund von dem Vorzuge, welchen die Kunst
unter den Griechen erlanget hat, ist theils dem Einflusse des Himmels,
theils der Verfassung und Regierung, und der dadurch gebildeten Den-
kungsart, wie nicht weniger der Achtung der Künstler, und dem Gebrau-
che und der Anwendung der Kunst unter den Griechen, zuzuschreiben.

I.
Von dem
Einflusse des
Himmels.

Der Einfluß des Himmels muß den Saamen beleben, aus welchem
die Kunst soll getrieben werden, und zu diesem Saamen war Griechenland
der auserwählte Boden; und das Talent zur Philosophie, welches Epi-
curus den Griechen 1) allein beylegen wollen, könnte mit mehrerm Rechte
von der Kunst gelten. Vieles, was wir uns als Idealisch vorstellen möch-
ten, war die Natur bey ihnen. Die Natur, nach dem sie stuffenweis
durch Kälte und Hitze gegangen, hat sich in Griechenland, wo eine zwi-
schen Winter und Sommer abgewogene Witterung 2) ist, wie in ihrem

Mittel-
1) Clem. Alex. Strom. L. 1. p. 355. l. 12.
2) Herodot. L. 3. p. 127. l. 11. Plat. Tim. p. 475. l. 43. ed. Bas. 1534.

I Theil. Viertes Capitel.
in Unterricht des Weſentlichen beſtaͤnde, und in welcher nicht blos Kennt-
niſſe zum Wiſſen, ſondern auch Lehren zum Ausuͤben vorgetragen wuͤrden.
Die Abhandlung von der Kunſt der Aegypter, der Hetrurier, und anderer
Voͤlker, kann unſere Begriffe erweitern, und zur Richtigkeit im Urtheil fuͤh-
ren; die von den Griechen aber ſoll ſuchen, dieſelben auf Eins und auf das
Wahre zu beſtimmen, zur Regel im Urtheilen und im Wirken.

Dieſe Abhandlung uͤber die Kunſt der Griechen beſtehet aus vier
Stuͤcken: Das erſte und vorlaͤufige handelt von den Gruͤnden und Urſa-
chen des Aufnehmens und des Vorzugs der Griechiſchen Kunſt vor ande-
ren Voͤlkern; das zweyte von dem Weſentlichen der Kunſt; das dritte von
dem Wachsthume, und von dem Falle derſelben; und das vierte von dem
Mechaniſchen Theile der Kunſt. Den Beſchluß dieſes Capitels macht eine
Betrachtung uͤber die Malereyen aus dem Alterthume.

Die Urſache und der Grund von dem Vorzuge, welchen die Kunſt
unter den Griechen erlanget hat, iſt theils dem Einfluſſe des Himmels,
theils der Verfaſſung und Regierung, und der dadurch gebildeten Den-
kungsart, wie nicht weniger der Achtung der Kuͤnſtler, und dem Gebrau-
che und der Anwendung der Kunſt unter den Griechen, zuzuſchreiben.

I.
Von dem
Einfluſſe des
Himmels.

Der Einfluß des Himmels muß den Saamen beleben, aus welchem
die Kunſt ſoll getrieben werden, und zu dieſem Saamen war Griechenland
der auserwaͤhlte Boden; und das Talent zur Philoſophie, welches Epi-
curus den Griechen 1) allein beylegen wollen, koͤnnte mit mehrerm Rechte
von der Kunſt gelten. Vieles, was wir uns als Idealiſch vorſtellen moͤch-
ten, war die Natur bey ihnen. Die Natur, nach dem ſie ſtuffenweis
durch Kaͤlte und Hitze gegangen, hat ſich in Griechenland, wo eine zwi-
ſchen Winter und Sommer abgewogene Witterung 2) iſt, wie in ihrem

Mittel-
1) Clem. Alex. Strom. L. 1. p. 355. l. 12.
2) Herodot. L. 3. p. 127. l. 11. Plat. Tim. p. 475. l. 43. ed. Baſ. 1534.
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[128/0178] I Theil. Viertes Capitel. in Unterricht des Weſentlichen beſtaͤnde, und in welcher nicht blos Kennt- niſſe zum Wiſſen, ſondern auch Lehren zum Ausuͤben vorgetragen wuͤrden. Die Abhandlung von der Kunſt der Aegypter, der Hetrurier, und anderer Voͤlker, kann unſere Begriffe erweitern, und zur Richtigkeit im Urtheil fuͤh- ren; die von den Griechen aber ſoll ſuchen, dieſelben auf Eins und auf das Wahre zu beſtimmen, zur Regel im Urtheilen und im Wirken. Dieſe Abhandlung uͤber die Kunſt der Griechen beſtehet aus vier Stuͤcken: Das erſte und vorlaͤufige handelt von den Gruͤnden und Urſa- chen des Aufnehmens und des Vorzugs der Griechiſchen Kunſt vor ande- ren Voͤlkern; das zweyte von dem Weſentlichen der Kunſt; das dritte von dem Wachsthume, und von dem Falle derſelben; und das vierte von dem Mechaniſchen Theile der Kunſt. Den Beſchluß dieſes Capitels macht eine Betrachtung uͤber die Malereyen aus dem Alterthume. Die Urſache und der Grund von dem Vorzuge, welchen die Kunſt unter den Griechen erlanget hat, iſt theils dem Einfluſſe des Himmels, theils der Verfaſſung und Regierung, und der dadurch gebildeten Den- kungsart, wie nicht weniger der Achtung der Kuͤnſtler, und dem Gebrau- che und der Anwendung der Kunſt unter den Griechen, zuzuſchreiben. Der Einfluß des Himmels muß den Saamen beleben, aus welchem die Kunſt ſoll getrieben werden, und zu dieſem Saamen war Griechenland der auserwaͤhlte Boden; und das Talent zur Philoſophie, welches Epi- curus den Griechen 1) allein beylegen wollen, koͤnnte mit mehrerm Rechte von der Kunſt gelten. Vieles, was wir uns als Idealiſch vorſtellen moͤch- ten, war die Natur bey ihnen. Die Natur, nach dem ſie ſtuffenweis durch Kaͤlte und Hitze gegangen, hat ſich in Griechenland, wo eine zwi- ſchen Winter und Sommer abgewogene Witterung 2) iſt, wie in ihrem Mittel- 1) Clem. Alex. Strom. L. 1. p. 355. l. 12. 2) Herodot. L. 3. p. 127. l. 11. Plat. Tim. p. 475. l. 43. ed. Baſ. 1534.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/178>, abgerufen am 16.04.2024.