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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
dem Feste des Philesischen Apollo war 1) auf den gelehrtesten Kuß unter
jungen Leuten ein Preis gesetzet. Eben dieses geschah unter Entscheidung
eines Richters, wie vermuthlich auch dort zu Megara 2) bey dem Grabe
des Diocles. Zu Sparta 3), und zu Lesbus 4), in dem Tempel der Juno,
und bey den Parrhasiern 5) waren Wettstreite der Schönheit unter dem
Weiblichen Geschlechte.

II.
Von der Ver-
fassung u. Re-
gierung unter
den Griechen,
unter welcher
betrachtet wird

In Absicht der Verfassung und Regierung von Griechenland ist die
Freyheit die vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst. Die Freyheit
hat in Griechenland allezeit den Sitz gehabt, auch neben dem Throne 6)
der Könige, welche väterlich 7) regiereten, ehe die Aufklärung der Ver-
A.
Die Freyheit.
nunft ihnen die Süßigkeit einer völligen Freyheit schmecken ließ, und Ho-
merus nennet den Agamemnon 8) einen Hirten der Völker, dessen Liebe
für dieselben, und Sorge für ihr Bestes, anzudeuten. Ob sich gleich nachher
Tyrannen aufwarfen, so waren sie es nur in ihrem Vaterlande, und die
ganze Nation hat niemals ein einziges Oberhaupt erkannt. Daher ruhete
nicht auf einer Person allein das Recht, groß in seinem Volke zu seyn, und
sich mit Ausschließung anderer verewigen zu können.

B.
Die Beloh-
nung der Lei-
bes-Uebungen
und anderer
Verdienste
mit Statuen.

Die Kunst wurde schon sehr zeitig gebraucht, das Andenken einer
Person auch durch seine Figur zu erhalten, und hierzu stand einem jeden
Griechen der Weg offen. Da nun die ältesten Griechen 9) das Gelernete
dem, wo sich die Natur vornemlich äußerte, weit nachsetzten, so wur-
den auch die ersten Belohnungen auf Leibes-Uebungen gesetzt, und wir

finden
1) Lutat. ad Stat. Theb. L. 8. v. 198. conf. Barth. T. 3. p. 828.
2) Theocrit. Idyl. 12. v. 29. -- 34.
3) Mus. de Her. & Leand. amor. v. 75.
4) kalliseia genannt. v. Athen. Deipn. L. 13. p. 610. B.
5) Athen. l. c. p. 609. E.
6) Aristot. Polit. L. 3. c. 10. p. 87. ed. Sylburg.
7) Thucyd. L. 1. p. 5. l. 25.
8) Aristot. Eth. Nicom. L. 8. c. 11. p. 148. Dionys. Halic. Ant. Rom. L. 5. p. 322. l. 45.
9) Pind. Olymp. 9. v. 152.

I Theil. Viertes Capitel.
dem Feſte des Phileſiſchen Apollo war 1) auf den gelehrteſten Kuß unter
jungen Leuten ein Preis geſetzet. Eben dieſes geſchah unter Entſcheidung
eines Richters, wie vermuthlich auch dort zu Megara 2) bey dem Grabe
des Diocles. Zu Sparta 3), und zu Lesbus 4), in dem Tempel der Juno,
und bey den Parrhaſiern 5) waren Wettſtreite der Schoͤnheit unter dem
Weiblichen Geſchlechte.

II.
Von der Ver-
faſſung u. Re-
gierung unter
den Griechen,
unter welcher
betrachtet wird

In Abſicht der Verfaſſung und Regierung von Griechenland iſt die
Freyheit die vornehmſte Urſache des Vorzugs der Kunſt. Die Freyheit
hat in Griechenland allezeit den Sitz gehabt, auch neben dem Throne 6)
der Koͤnige, welche vaͤterlich 7) regiereten, ehe die Aufklaͤrung der Ver-
A.
Die Freyheit.
nunft ihnen die Suͤßigkeit einer voͤlligen Freyheit ſchmecken ließ, und Ho-
merus nennet den Agamemnon 8) einen Hirten der Voͤlker, deſſen Liebe
fuͤr dieſelben, und Sorge fuͤr ihr Beſtes, anzudeuten. Ob ſich gleich nachher
Tyrannen aufwarfen, ſo waren ſie es nur in ihrem Vaterlande, und die
ganze Nation hat niemals ein einziges Oberhaupt erkannt. Daher ruhete
nicht auf einer Perſon allein das Recht, groß in ſeinem Volke zu ſeyn, und
ſich mit Ausſchließung anderer verewigen zu koͤnnen.

B.
Die Beloh-
nung der Lei-
bes-Uebungen
und anderer
Verdienſte
mit Statuen.

Die Kunſt wurde ſchon ſehr zeitig gebraucht, das Andenken einer
Perſon auch durch ſeine Figur zu erhalten, und hierzu ſtand einem jeden
Griechen der Weg offen. Da nun die aͤlteſten Griechen 9) das Gelernete
dem, wo ſich die Natur vornemlich aͤußerte, weit nachſetzten, ſo wur-
den auch die erſten Belohnungen auf Leibes-Uebungen geſetzt, und wir

finden
1) Lutat. ad Stat. Theb. L. 8. v. 198. conf. Barth. T. 3. p. 828.
2) Theocrit. Idyl. 12. v. 29. ‒‒ 34.
3) Muſ. de Her. & Leand. amor. v. 75.
4) καλλιςεῖα genannt. v. Athen. Deipn. L. 13. p. 610. B.
5) Athen. l. c. p. 609. E.
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7) Thucyd. L. 1. p. 5. l. 25.
8) Ariſtot. Eth. Nicom. L. 8. c. 11. p. 148. Dionyſ. Halic. Ant. Rom. L. 5. p. 322. l. 45.
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[130/0180] I Theil. Viertes Capitel. dem Feſte des Phileſiſchen Apollo war 1) auf den gelehrteſten Kuß unter jungen Leuten ein Preis geſetzet. Eben dieſes geſchah unter Entſcheidung eines Richters, wie vermuthlich auch dort zu Megara 2) bey dem Grabe des Diocles. Zu Sparta 3), und zu Lesbus 4), in dem Tempel der Juno, und bey den Parrhaſiern 5) waren Wettſtreite der Schoͤnheit unter dem Weiblichen Geſchlechte. In Abſicht der Verfaſſung und Regierung von Griechenland iſt die Freyheit die vornehmſte Urſache des Vorzugs der Kunſt. Die Freyheit hat in Griechenland allezeit den Sitz gehabt, auch neben dem Throne 6) der Koͤnige, welche vaͤterlich 7) regiereten, ehe die Aufklaͤrung der Ver- nunft ihnen die Suͤßigkeit einer voͤlligen Freyheit ſchmecken ließ, und Ho- merus nennet den Agamemnon 8) einen Hirten der Voͤlker, deſſen Liebe fuͤr dieſelben, und Sorge fuͤr ihr Beſtes, anzudeuten. Ob ſich gleich nachher Tyrannen aufwarfen, ſo waren ſie es nur in ihrem Vaterlande, und die ganze Nation hat niemals ein einziges Oberhaupt erkannt. Daher ruhete nicht auf einer Perſon allein das Recht, groß in ſeinem Volke zu ſeyn, und ſich mit Ausſchließung anderer verewigen zu koͤnnen. A. Die Freyheit. Die Kunſt wurde ſchon ſehr zeitig gebraucht, das Andenken einer Perſon auch durch ſeine Figur zu erhalten, und hierzu ſtand einem jeden Griechen der Weg offen. Da nun die aͤlteſten Griechen 9) das Gelernete dem, wo ſich die Natur vornemlich aͤußerte, weit nachſetzten, ſo wur- den auch die erſten Belohnungen auf Leibes-Uebungen geſetzt, und wir finden 1) Lutat. ad Stat. Theb. L. 8. v. 198. conf. Barth. T. 3. p. 828. 2) Theocrit. Idyl. 12. v. 29. ‒‒ 34. 3) Muſ. de Her. & Leand. amor. v. 75. 4) καλλιςεῖα genannt. v. Athen. Deipn. L. 13. p. 610. B. 5) Athen. l. c. p. 609. E. 6) Ariſtot. Polit. L. 3. c. 10. p. 87. ed. Sylburg. 7) Thucyd. L. 1. p. 5. l. 25. 8) Ariſtot. Eth. Nicom. L. 8. c. 11. p. 148. Dionyſ. Halic. Ant. Rom. L. 5. p. 322. l. 45. 9) Pind. Olymp. 9. v. 152.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/180>, abgerufen am 24.04.2024.