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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Griechen.

Der Grund von dem späteren Wachsthume der Malerey liegt theilsV.
Von dem
verschiedenen
Alter der Ma-
lerey und
Bildhauerey.

in der Kunst selbst, theils in dem Gebrauche und in der Anwendung der-
selben: denn da die Bildhauerey den Götterdienst erweitert hat, so ist
sie wiederum durch diesen gewachsen. Die Malerey aber hatte nicht glei-
chen Vortheil: sie war den Göttern und den Tempeln gewidmet, und
einige Tempel, wie der Juno zu Samos 1), waren Pinacothecä, d. i.
Gallerien von Gemälden; auch zu Rom waren in dem Tempel des Frie-
dens, nemlich in den obern Zimmern oder Gewölbern desselben, die Gemälde
der besten Meister aufgehänget. Aber die Werke der Maler scheinen bey
den Griechen kein Vorwurf heiliger zuversichtlicher Verehrung und Anbe-
tung gewesen zu seyn; wenigstens findet sich unter allen vom Plinius und
Pausanias angeführten Gemälden kein einziges, welches diese Ehre erhal-
ten hätte; wo nicht etwa jemand in unten gesetzter Stelle des Philo 2)
ein solches Gemälde finden wollte. Pausanias 3) gedenket schlechthin
eines Gemäldes der Pallas in ihrem Tempel zu Tegea, welches ein Lecti-
sternium
4) derselben war. Die Malerey und Bildhauerey verhalten
sich, wie die Beredsamkeit und Dichtkunst: diese, weil sie mehr, als jene,
heilig gehalten, zu heiligen Handlungen gebrauchet, und besonders belohnet
wurde, gelangete zeitiger zu ihrer Vollkommenheit; und dieses ist zum
Theil die Ursache, daß, wie Cicero 5) sagt, mehr gute Dichter, als Red-

ner,
1) Strab. L. 14. p. 944.
2) De Virtut. & Legat. ad Caj. p. 567. [fremdsprachliches Material] meden [fremdsprachliches Material]n proseukhais uper autoun [Kaisaros]
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3) L. 8. p. 695. l. 23.
4) Conf. Casaub. Animadv. in Sueton. p. 39. D.
5) de Orat. L. 1. c. 3.
S 2
Von der Kunſt unter den Griechen.

Der Grund von dem ſpaͤteren Wachsthume der Malerey liegt theilsV.
Von dem
verſchiedenen
Alter der Ma-
lerey und
Bildhauerey.

in der Kunſt ſelbſt, theils in dem Gebrauche und in der Anwendung der-
ſelben: denn da die Bildhauerey den Goͤtterdienſt erweitert hat, ſo iſt
ſie wiederum durch dieſen gewachſen. Die Malerey aber hatte nicht glei-
chen Vortheil: ſie war den Goͤttern und den Tempeln gewidmet, und
einige Tempel, wie der Juno zu Samos 1), waren Pinacothecaͤ, d. i.
Gallerien von Gemaͤlden; auch zu Rom waren in dem Tempel des Frie-
dens, nemlich in den obern Zimmern oder Gewoͤlbern deſſelben, die Gemaͤlde
der beſten Meiſter aufgehaͤnget. Aber die Werke der Maler ſcheinen bey
den Griechen kein Vorwurf heiliger zuverſichtlicher Verehrung und Anbe-
tung geweſen zu ſeyn; wenigſtens findet ſich unter allen vom Plinius und
Pauſanias angefuͤhrten Gemaͤlden kein einziges, welches dieſe Ehre erhal-
ten haͤtte; wo nicht etwa jemand in unten geſetzter Stelle des Philo 2)
ein ſolches Gemaͤlde finden wollte. Pauſanias 3) gedenket ſchlechthin
eines Gemaͤldes der Pallas in ihrem Tempel zu Tegea, welches ein Lecti-
ſternium
4) derſelben war. Die Malerey und Bildhauerey verhalten
ſich, wie die Beredſamkeit und Dichtkunſt: dieſe, weil ſie mehr, als jene,
heilig gehalten, zu heiligen Handlungen gebrauchet, und beſonders belohnet
wurde, gelangete zeitiger zu ihrer Vollkommenheit; und dieſes iſt zum
Theil die Urſache, daß, wie Cicero 5) ſagt, mehr gute Dichter, als Red-

ner,
1) Strab. L. 14. p. 944.
2) De Virtut. & Legat. ad Caj. p. 567. [fremdsprachliches Material] μηδὲν [fremdsprachliches Material]ν προσευχαῖς ὑπὲρ αὐτȣ̃ [Καίσαρος]
μὴ ἄγαλμα, μὴ ξόε[fremdsprachliches Material]νον, μ[fremdsprachliches Material]δὲ γραφὴν ἱδρυσάμενοι.
3) L. 8. p. 695. l. 23.
4) Conf. Caſaub. Animadv. in Sueton. p. 39. D.
5) de Orat. L. 1. c. 3.
S 2
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[139/0189] Von der Kunſt unter den Griechen. Der Grund von dem ſpaͤteren Wachsthume der Malerey liegt theils in der Kunſt ſelbſt, theils in dem Gebrauche und in der Anwendung der- ſelben: denn da die Bildhauerey den Goͤtterdienſt erweitert hat, ſo iſt ſie wiederum durch dieſen gewachſen. Die Malerey aber hatte nicht glei- chen Vortheil: ſie war den Goͤttern und den Tempeln gewidmet, und einige Tempel, wie der Juno zu Samos 1), waren Pinacothecaͤ, d. i. Gallerien von Gemaͤlden; auch zu Rom waren in dem Tempel des Frie- dens, nemlich in den obern Zimmern oder Gewoͤlbern deſſelben, die Gemaͤlde der beſten Meiſter aufgehaͤnget. Aber die Werke der Maler ſcheinen bey den Griechen kein Vorwurf heiliger zuverſichtlicher Verehrung und Anbe- tung geweſen zu ſeyn; wenigſtens findet ſich unter allen vom Plinius und Pauſanias angefuͤhrten Gemaͤlden kein einziges, welches dieſe Ehre erhal- ten haͤtte; wo nicht etwa jemand in unten geſetzter Stelle des Philo 2) ein ſolches Gemaͤlde finden wollte. Pauſanias 3) gedenket ſchlechthin eines Gemaͤldes der Pallas in ihrem Tempel zu Tegea, welches ein Lecti- ſternium 4) derſelben war. Die Malerey und Bildhauerey verhalten ſich, wie die Beredſamkeit und Dichtkunſt: dieſe, weil ſie mehr, als jene, heilig gehalten, zu heiligen Handlungen gebrauchet, und beſonders belohnet wurde, gelangete zeitiger zu ihrer Vollkommenheit; und dieſes iſt zum Theil die Urſache, daß, wie Cicero 5) ſagt, mehr gute Dichter, als Red- ner, V. Von dem verſchiedenen Alter der Ma- lerey und Bildhauerey. 1) Strab. L. 14. p. 944. 2) De Virtut. & Legat. ad Caj. p. 567. _ μηδὲν _ ν προσευχαῖς ὑπὲρ αὐτȣ̃ [Καίσαρος] μὴ ἄγαλμα, μὴ ξόε_ νον, μ_ δὲ γραφὴν ἱδρυσάμενοι. 3) L. 8. p. 695. l. 23. 4) Conf. Caſaub. Animadv. in Sueton. p. 39. D. 5) de Orat. L. 1. c. 3. S 2

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/189>, abgerufen am 28.03.2024.