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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
a. der Ver-
neinende Be-
griff derselben.
Menschlichen Körpers. In der allgemeinen Betrachtung über die Schön-
heit ist vorläufig der verschiedene Begriff des Schönen zu berühren, wel-
ches der verneinende Begriff derselben ist, und alsdenn ist einiger bestimm-
ter Begriff der Schönheit zu geben; es kann aber leichter, wie Cotta beym
Cicero 1) von Gott meynet, von der Schönheit gesaget werden, was sie
nicht ist, als was sie ist.

Die Schönheit, als der höchste Entzweck, und als der Mittelpunct
der Kunst, erfordert vorläufig eine allgemeine Abhandlung, in welcher ich
mir und dem Leser ein Genüge zu thun wünschte; aber dieses ist auf bey-
den Seiten ein schwer zu erfüllender Wunsch. Denn die Schönheit ist
eins von den großen Geheimnissen der Natur, deren Wirkung wir sehen,
und alle empfinden, von deren Wesen aber ein allgemeiner deutlicher Be-
griff unter die unerfundenen Wahrheiten gehöret. Wäre dieser Begriff
Geometrisch deutlich, so würde das Urtheil der Menschen über das Schöne
nicht verschieden seyn, und es würde die Ueberzeugung von der wahren
Schönheit leicht werden; noch weniger würde es Menschen entweder von
so unglücklicher Empfindung, oder von so widersprechendem Dünkel geben
können, daß sie auf der einen Seite sich eine falsche Schönheit bilden, auf
der andern keinen richtigen Begriff von derselben annehmen, und mit dem
Ennius sagen würden:

Sed mihi neutiquam cor consentit cum oculorum adspectu.
ap. Cic. Lucull. c. 17.

Diese letztern sind schwerer zu überzeugen, als jene zu belehren; ihre
Zweifel aber sind mehr ihren Witz zu offenbaren erdacht, als zur Vernei-
nung des wirklichen Schönen behauptet; es haben auch dieselben in der
Kunst keinen Einfluß. Jene sollte der Augenschein, sonderlich im Ange-
sichte von tausend und mehr erhaltenen Werken des Alterthums erleuchten:

aber
1) de Nat. deor. L. 1. c. 21.

I Theil. Viertes Capitel.
a. der Ver-
neinende Be-
griff derſelben.
Menſchlichen Koͤrpers. In der allgemeinen Betrachtung uͤber die Schoͤn-
heit iſt vorlaͤufig der verſchiedene Begriff des Schoͤnen zu beruͤhren, wel-
ches der verneinende Begriff derſelben iſt, und alsdenn iſt einiger beſtimm-
ter Begriff der Schoͤnheit zu geben; es kann aber leichter, wie Cotta beym
Cicero 1) von Gott meynet, von der Schoͤnheit geſaget werden, was ſie
nicht iſt, als was ſie iſt.

Die Schoͤnheit, als der hoͤchſte Entzweck, und als der Mittelpunct
der Kunſt, erfordert vorlaͤufig eine allgemeine Abhandlung, in welcher ich
mir und dem Leſer ein Genuͤge zu thun wuͤnſchte; aber dieſes iſt auf bey-
den Seiten ein ſchwer zu erfuͤllender Wunſch. Denn die Schoͤnheit iſt
eins von den großen Geheimniſſen der Natur, deren Wirkung wir ſehen,
und alle empfinden, von deren Weſen aber ein allgemeiner deutlicher Be-
griff unter die unerfundenen Wahrheiten gehoͤret. Waͤre dieſer Begriff
Geometriſch deutlich, ſo wuͤrde das Urtheil der Menſchen uͤber das Schoͤne
nicht verſchieden ſeyn, und es wuͤrde die Ueberzeugung von der wahren
Schoͤnheit leicht werden; noch weniger wuͤrde es Menſchen entweder von
ſo ungluͤcklicher Empfindung, oder von ſo widerſprechendem Duͤnkel geben
koͤnnen, daß ſie auf der einen Seite ſich eine falſche Schoͤnheit bilden, auf
der andern keinen richtigen Begriff von derſelben annehmen, und mit dem
Ennius ſagen wuͤrden:

Sed mihi neutiquam cor conſentit cum oculorum adſpectu.
ap. Cic. Lucull. c. 17.

Dieſe letztern ſind ſchwerer zu uͤberzeugen, als jene zu belehren; ihre
Zweifel aber ſind mehr ihren Witz zu offenbaren erdacht, als zur Vernei-
nung des wirklichen Schoͤnen behauptet; es haben auch dieſelben in der
Kunſt keinen Einfluß. Jene ſollte der Augenſchein, ſonderlich im Ange-
ſichte von tauſend und mehr erhaltenen Werken des Alterthums erleuchten:

aber
1) de Nat. deor. L. 1. c. 21.
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[142/0192] I Theil. Viertes Capitel. Menſchlichen Koͤrpers. In der allgemeinen Betrachtung uͤber die Schoͤn- heit iſt vorlaͤufig der verſchiedene Begriff des Schoͤnen zu beruͤhren, wel- ches der verneinende Begriff derſelben iſt, und alsdenn iſt einiger beſtimm- ter Begriff der Schoͤnheit zu geben; es kann aber leichter, wie Cotta beym Cicero 1) von Gott meynet, von der Schoͤnheit geſaget werden, was ſie nicht iſt, als was ſie iſt. a. der Ver- neinende Be- griff derſelben. Die Schoͤnheit, als der hoͤchſte Entzweck, und als der Mittelpunct der Kunſt, erfordert vorlaͤufig eine allgemeine Abhandlung, in welcher ich mir und dem Leſer ein Genuͤge zu thun wuͤnſchte; aber dieſes iſt auf bey- den Seiten ein ſchwer zu erfuͤllender Wunſch. Denn die Schoͤnheit iſt eins von den großen Geheimniſſen der Natur, deren Wirkung wir ſehen, und alle empfinden, von deren Weſen aber ein allgemeiner deutlicher Be- griff unter die unerfundenen Wahrheiten gehoͤret. Waͤre dieſer Begriff Geometriſch deutlich, ſo wuͤrde das Urtheil der Menſchen uͤber das Schoͤne nicht verſchieden ſeyn, und es wuͤrde die Ueberzeugung von der wahren Schoͤnheit leicht werden; noch weniger wuͤrde es Menſchen entweder von ſo ungluͤcklicher Empfindung, oder von ſo widerſprechendem Duͤnkel geben koͤnnen, daß ſie auf der einen Seite ſich eine falſche Schoͤnheit bilden, auf der andern keinen richtigen Begriff von derſelben annehmen, und mit dem Ennius ſagen wuͤrden: Sed mihi neutiquam cor conſentit cum oculorum adſpectu. ap. Cic. Lucull. c. 17. Dieſe letztern ſind ſchwerer zu uͤberzeugen, als jene zu belehren; ihre Zweifel aber ſind mehr ihren Witz zu offenbaren erdacht, als zur Vernei- nung des wirklichen Schoͤnen behauptet; es haben auch dieſelben in der Kunſt keinen Einfluß. Jene ſollte der Augenſchein, ſonderlich im Ange- ſichte von tauſend und mehr erhaltenen Werken des Alterthums erleuchten: aber 1) de Nat. deor. L. 1. c. 21.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/192>, abgerufen am 28.03.2024.