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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
Die Formen eines solchen Bildes sind einfach und ununterbrochen, und
in dieser Einheit mannigfaltig, und dadurch sind sie harmonisch; eben so
wie ein süßer und angenehmer Ton durch Körper hervorgebracht wird,
deren Theile gleichförmig sind. Durch die Einheit und Einfalt wird alle
Schönheit erhaben, so wie es durch dieselbe alles wird, was wir wirken
und reden: denn was in sich groß ist, wird, mit Einfalt ausgeführet und
vorgebracht, erhaben. Es wird nicht enger eingeschränkt, oder verliehret
von seiner Größe, wenn es unser Geist wie mit einem Blicke übersehen
und messen, und in einem einzigen Begriffe einschließen und fassen kann,
sondern eben durch diese Begreiflichkeit stellet es uns sich in seiner völligen
Größe vor, und unser Geist wird durch die Fassung desselben erweitert,
und zugleich mit erhaben. Denn alles, was wir getheilt betrachten müssen,
oder durch die Menge der zusammengesetzten Theile nicht mit einmal über-
sehen können, verliehret dadurch von seiner Größe, so wie uns ein langer
Weg kurz wird durch mancherley Vorwürfe, welche sich uns auf demselben
darbiethen, oder durch viele Herbergen, in welchen wir anhalten können.
Diejenige Harmonie, welche unsern Geist entzücket, bestehet nicht in un-
endlich gebrochenen, gekettelten und geschleiften Tönen, sondern in einfa-
chen lang anhaltenden Zügen. Aus diesem Grunde erscheinet ein großer
Pallast klein, wenn derselbe mit Zierrathen überladen ist, und ein Haus
groß, wenn es schön und einfältig aufgeführet worden. Aus der Einheit
folget eine andere Eigenschaft der hohen Schönheit, die Unbezeichnung
derselben, das ist, deren Formen weder durch Puncte, noch durch Linien,
beschrieben werden, als die allein die Schönheit bilden; folglich eine Ge-
stalt, die weder dieser oder jener bestimmten Person eigen sey, noch irgend
einen Zustand des Gemüths oder eine Empfindung der Leidenschaft aus-
drücke, als welche fremde Züge in die Schönheit mischen, und die Ein-
heit unterbrechen. Nach diesem Begriff soll die Schönheit seyn, wie das
vollkommenste Wasser aus dem Schooße der Quelle geschöpfet, welches, je

weniger

I Theil. Viertes Capitel.
Die Formen eines ſolchen Bildes ſind einfach und ununterbrochen, und
in dieſer Einheit mannigfaltig, und dadurch ſind ſie harmoniſch; eben ſo
wie ein ſuͤßer und angenehmer Ton durch Koͤrper hervorgebracht wird,
deren Theile gleichfoͤrmig ſind. Durch die Einheit und Einfalt wird alle
Schoͤnheit erhaben, ſo wie es durch dieſelbe alles wird, was wir wirken
und reden: denn was in ſich groß iſt, wird, mit Einfalt ausgefuͤhret und
vorgebracht, erhaben. Es wird nicht enger eingeſchraͤnkt, oder verliehret
von ſeiner Groͤße, wenn es unſer Geiſt wie mit einem Blicke uͤberſehen
und meſſen, und in einem einzigen Begriffe einſchließen und faſſen kann,
ſondern eben durch dieſe Begreiflichkeit ſtellet es uns ſich in ſeiner voͤlligen
Groͤße vor, und unſer Geiſt wird durch die Faſſung deſſelben erweitert,
und zugleich mit erhaben. Denn alles, was wir getheilt betrachten muͤſſen,
oder durch die Menge der zuſammengeſetzten Theile nicht mit einmal uͤber-
ſehen koͤnnen, verliehret dadurch von ſeiner Groͤße, ſo wie uns ein langer
Weg kurz wird durch mancherley Vorwuͤrfe, welche ſich uns auf demſelben
darbiethen, oder durch viele Herbergen, in welchen wir anhalten koͤnnen.
Diejenige Harmonie, welche unſern Geiſt entzuͤcket, beſtehet nicht in un-
endlich gebrochenen, gekettelten und geſchleiften Toͤnen, ſondern in einfa-
chen lang anhaltenden Zuͤgen. Aus dieſem Grunde erſcheinet ein großer
Pallaſt klein, wenn derſelbe mit Zierrathen uͤberladen iſt, und ein Haus
groß, wenn es ſchoͤn und einfaͤltig aufgefuͤhret worden. Aus der Einheit
folget eine andere Eigenſchaft der hohen Schoͤnheit, die Unbezeichnung
derſelben, das iſt, deren Formen weder durch Puncte, noch durch Linien,
beſchrieben werden, als die allein die Schoͤnheit bilden; folglich eine Ge-
ſtalt, die weder dieſer oder jener beſtimmten Perſon eigen ſey, noch irgend
einen Zuſtand des Gemuͤths oder eine Empfindung der Leidenſchaft aus-
druͤcke, als welche fremde Zuͤge in die Schoͤnheit miſchen, und die Ein-
heit unterbrechen. Nach dieſem Begriff ſoll die Schoͤnheit ſeyn, wie das
vollkommenſte Waſſer aus dem Schooße der Quelle geſchoͤpfet, welches, je

weniger
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[150/0200] I Theil. Viertes Capitel. Die Formen eines ſolchen Bildes ſind einfach und ununterbrochen, und in dieſer Einheit mannigfaltig, und dadurch ſind ſie harmoniſch; eben ſo wie ein ſuͤßer und angenehmer Ton durch Koͤrper hervorgebracht wird, deren Theile gleichfoͤrmig ſind. Durch die Einheit und Einfalt wird alle Schoͤnheit erhaben, ſo wie es durch dieſelbe alles wird, was wir wirken und reden: denn was in ſich groß iſt, wird, mit Einfalt ausgefuͤhret und vorgebracht, erhaben. Es wird nicht enger eingeſchraͤnkt, oder verliehret von ſeiner Groͤße, wenn es unſer Geiſt wie mit einem Blicke uͤberſehen und meſſen, und in einem einzigen Begriffe einſchließen und faſſen kann, ſondern eben durch dieſe Begreiflichkeit ſtellet es uns ſich in ſeiner voͤlligen Groͤße vor, und unſer Geiſt wird durch die Faſſung deſſelben erweitert, und zugleich mit erhaben. Denn alles, was wir getheilt betrachten muͤſſen, oder durch die Menge der zuſammengeſetzten Theile nicht mit einmal uͤber- ſehen koͤnnen, verliehret dadurch von ſeiner Groͤße, ſo wie uns ein langer Weg kurz wird durch mancherley Vorwuͤrfe, welche ſich uns auf demſelben darbiethen, oder durch viele Herbergen, in welchen wir anhalten koͤnnen. Diejenige Harmonie, welche unſern Geiſt entzuͤcket, beſtehet nicht in un- endlich gebrochenen, gekettelten und geſchleiften Toͤnen, ſondern in einfa- chen lang anhaltenden Zuͤgen. Aus dieſem Grunde erſcheinet ein großer Pallaſt klein, wenn derſelbe mit Zierrathen uͤberladen iſt, und ein Haus groß, wenn es ſchoͤn und einfaͤltig aufgefuͤhret worden. Aus der Einheit folget eine andere Eigenſchaft der hohen Schoͤnheit, die Unbezeichnung derſelben, das iſt, deren Formen weder durch Puncte, noch durch Linien, beſchrieben werden, als die allein die Schoͤnheit bilden; folglich eine Ge- ſtalt, die weder dieſer oder jener beſtimmten Perſon eigen ſey, noch irgend einen Zuſtand des Gemuͤths oder eine Empfindung der Leidenſchaft aus- druͤcke, als welche fremde Zuͤge in die Schoͤnheit miſchen, und die Ein- heit unterbrechen. Nach dieſem Begriff ſoll die Schoͤnheit ſeyn, wie das vollkommenſte Waſſer aus dem Schooße der Quelle geſchoͤpfet, welches, je weniger

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/200>, abgerufen am 29.03.2024.