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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Griechen.
weniger Geschmack es hat, desto gesunder geachtet wird, weil es von allen
fremden Theilen geläutert ist. So wie nun der Zustand der Glückseelig-
keit, das ist, die Entfernung vom Schmerze, und der Genuß der Zufrie-
denheit in der Natur der allerleichteste ist, und der Weg zu derselben der
geradeste, und ohne Mühe und Kosten kann erhalten werden, so scheinet
auch die Idee der höchsten Schönheit am einfältigsten und am leichtesten,
und es ist zu derselben keine philosophische Kenntniß des Menschen, keine
Untersuchung der Leidenschaften der Seele, und deren Ausdruck nöthig.
Da aber in der Menschlichen Natur zwischen dem Schmerze und dem Ver-
gnügen, auch nach dem Epicurus, kein mittlerer Stand ist, und die Lei-
denschaften die Winde sind, die in dem Meere des Lebens unser Schiff trei-
ben, mit welchen der Dichter seegelt, und der Künstler sich erhebet, so
kann die reine Schönheit allein nicht der einzige Vorwurf unserer Betrach-
tung seyn, sondern wir müssen dieselbe auch in den Stand der Handlung
und Leidenschaft setzen, welches wir in der Kunst in dem Worte Ausdruck
begreifen. Es ist also zum ersten von der Bildung der Schönheit, und
zum zweyten von dem Ausdrucke zu handeln.

Die Bildung der Schönheit ist entweder Individuel, das ist, aufaa. Die Bil-
dung der
Schönheit in
Werken der
Kunst.

das einzelne gerichtet, oder sie ist eine Wahl schöner Theile aus vielen ein-
zelnen, und Verbindung in eins, welche wir Idealisch nennen. Die
Bildung der Schönheit hat angefangen mit dem einzelnen Schönen, ina. die In-
dividuelle
Schönheit.

Nachahmung eines schönen Vorwurfs, auch in Vorstellung der Götter,
und es wurden auch noch in dem Flore der Kunst Göttinnen nach dem
Ebenbilde schöner Weiber, so gar die ihre Gunst gemein und feil hatten,
gemacht. Die Gymnasia und die Orte, wo sich die Jugend im Ringen
und in andern Spielen nackend übte, und wohin man gieng 1), die schöne
Jugend zu sehen, waren die Schulen, wo die Künstler die Schönheit des

Gebäu-
1) Aristoph. Pac. v. 761.

Von der Kunſt unter den Griechen.
weniger Geſchmack es hat, deſto geſunder geachtet wird, weil es von allen
fremden Theilen gelaͤutert iſt. So wie nun der Zuſtand der Gluͤckſeelig-
keit, das iſt, die Entfernung vom Schmerze, und der Genuß der Zufrie-
denheit in der Natur der allerleichteſte iſt, und der Weg zu derſelben der
geradeſte, und ohne Muͤhe und Koſten kann erhalten werden, ſo ſcheinet
auch die Idee der hoͤchſten Schoͤnheit am einfaͤltigſten und am leichteſten,
und es iſt zu derſelben keine philoſophiſche Kenntniß des Menſchen, keine
Unterſuchung der Leidenſchaften der Seele, und deren Ausdruck noͤthig.
Da aber in der Menſchlichen Natur zwiſchen dem Schmerze und dem Ver-
gnuͤgen, auch nach dem Epicurus, kein mittlerer Stand iſt, und die Lei-
denſchaften die Winde ſind, die in dem Meere des Lebens unſer Schiff trei-
ben, mit welchen der Dichter ſeegelt, und der Kuͤnſtler ſich erhebet, ſo
kann die reine Schoͤnheit allein nicht der einzige Vorwurf unſerer Betrach-
tung ſeyn, ſondern wir muͤſſen dieſelbe auch in den Stand der Handlung
und Leidenſchaft ſetzen, welches wir in der Kunſt in dem Worte Ausdruck
begreifen. Es iſt alſo zum erſten von der Bildung der Schoͤnheit, und
zum zweyten von dem Ausdrucke zu handeln.

Die Bildung der Schoͤnheit iſt entweder Individuel, das iſt, aufaa. Die Bil-
dung der
Schoͤnheit in
Werken der
Kunſt.

das einzelne gerichtet, oder ſie iſt eine Wahl ſchoͤner Theile aus vielen ein-
zelnen, und Verbindung in eins, welche wir Idealiſch nennen. Die
Bildung der Schoͤnheit hat angefangen mit dem einzelnen Schoͤnen, inα. die In-
dividuelle
Schoͤnheit.

Nachahmung eines ſchoͤnen Vorwurfs, auch in Vorſtellung der Goͤtter,
und es wurden auch noch in dem Flore der Kunſt Goͤttinnen nach dem
Ebenbilde ſchoͤner Weiber, ſo gar die ihre Gunſt gemein und feil hatten,
gemacht. Die Gymnaſia und die Orte, wo ſich die Jugend im Ringen
und in andern Spielen nackend uͤbte, und wohin man gieng 1), die ſchoͤne
Jugend zu ſehen, waren die Schulen, wo die Kuͤnſtler die Schoͤnheit des

Gebaͤu-
1) Ariſtoph. Pac. v. 761.
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[151/0201] Von der Kunſt unter den Griechen. weniger Geſchmack es hat, deſto geſunder geachtet wird, weil es von allen fremden Theilen gelaͤutert iſt. So wie nun der Zuſtand der Gluͤckſeelig- keit, das iſt, die Entfernung vom Schmerze, und der Genuß der Zufrie- denheit in der Natur der allerleichteſte iſt, und der Weg zu derſelben der geradeſte, und ohne Muͤhe und Koſten kann erhalten werden, ſo ſcheinet auch die Idee der hoͤchſten Schoͤnheit am einfaͤltigſten und am leichteſten, und es iſt zu derſelben keine philoſophiſche Kenntniß des Menſchen, keine Unterſuchung der Leidenſchaften der Seele, und deren Ausdruck noͤthig. Da aber in der Menſchlichen Natur zwiſchen dem Schmerze und dem Ver- gnuͤgen, auch nach dem Epicurus, kein mittlerer Stand iſt, und die Lei- denſchaften die Winde ſind, die in dem Meere des Lebens unſer Schiff trei- ben, mit welchen der Dichter ſeegelt, und der Kuͤnſtler ſich erhebet, ſo kann die reine Schoͤnheit allein nicht der einzige Vorwurf unſerer Betrach- tung ſeyn, ſondern wir muͤſſen dieſelbe auch in den Stand der Handlung und Leidenſchaft ſetzen, welches wir in der Kunſt in dem Worte Ausdruck begreifen. Es iſt alſo zum erſten von der Bildung der Schoͤnheit, und zum zweyten von dem Ausdrucke zu handeln. Die Bildung der Schoͤnheit iſt entweder Individuel, das iſt, auf das einzelne gerichtet, oder ſie iſt eine Wahl ſchoͤner Theile aus vielen ein- zelnen, und Verbindung in eins, welche wir Idealiſch nennen. Die Bildung der Schoͤnheit hat angefangen mit dem einzelnen Schoͤnen, in Nachahmung eines ſchoͤnen Vorwurfs, auch in Vorſtellung der Goͤtter, und es wurden auch noch in dem Flore der Kunſt Goͤttinnen nach dem Ebenbilde ſchoͤner Weiber, ſo gar die ihre Gunſt gemein und feil hatten, gemacht. Die Gymnaſia und die Orte, wo ſich die Jugend im Ringen und in andern Spielen nackend uͤbte, und wohin man gieng 1), die ſchoͤne Jugend zu ſehen, waren die Schulen, wo die Kuͤnſtler die Schoͤnheit des Gebaͤu- aa. Die Bil- dung der Schoͤnheit in Werken der Kunſt. α. die In- dividuelle Schoͤnheit. 1) Ariſtoph. Pac. v. 761.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/201>, abgerufen am 24.04.2024.