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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
Gebäudes sahen, und durch die tägliche Gelegenheit das schönste Nackende
zu sehen, wurde ihre Einbildung erhitzt, und die Schönheit der Formen
wurde ihnen eigen und gegenwärtig. In Sparta übeten sich so gar junge
Mädgen entkleidet 1), oder fast ganz entblößt 2), im Ringen. Es waren
auch den Griechischen Künstlern, da sie sich mit Betrachtung des Schönen
anfiengen zu beschäftigen, die aus beyden Geschlechtern gleichsam vermischte
Natur Männlicher Jugend bereits bekannt, welche die Wollust der Asia-
tischen Völker in wohlgebildeten Knaben, durch Benehmung der Saamen-
gefäße hervorbrachte, um dadurch den schnellen Lauf der flüchtigen Jugend
einzuhalten. Unter den Jonischen Griechen in Klein-Asien wurde die
Schaffung solcher zweydeutigen Schönheiten ein heiliger und Gottesdienst-
licher Gebrauch in den verschnittenen Priestern der Cybele.

In der schönen Jugend fanden die Künstler die Ursache der Schönheit
in der Einheit, in der Mannigfaltigkeit, und in der Uebereinstimmung.
Denn die Formen eines schönen Körpers sind durch Linien bestimmt, welche
beständig ihren Mittelpunct verändern, und fortgeführt niemals einen Cir-
kel beschreiben, folglich einfacher, aber auch mannigfaltiger, als ein Cirkel,
welcher, so groß und so klein derselbe immer ist, eben den Mittelpunct hat,
und andere in sich schließet, oder eingeschlossen wird. Diese Mannigfaltig-
keit wurde von den Griechen in Werken von aller Art 3) gesuchet, und dieses
Systema ihrer Einsicht zeiget sich auch in der Form ihrer Gefäße und Vasen,
deren svelter und zierlicher Conturn nach eben der Regel, das ist, durch
eine Linie gezogen ist, die durch mehr Cirkel muß gefunden werden: denn
diese Werke haben alle eine Elliptische Figur, und hierinn bestehet die
Schönheit derselben. Je mehr Einheit aber in der Verbindung der For-
men, und in der Ausfließung einer aus der andern ist, desto größer ist das
Schöne des Ganzen. Ein schönes jugendliches Gewächs aus solchen For-

men
1) Aristoph. Lysistr. v. 82. Polluc. Onom. L. 4. Sect. 102.
2) Eurip. Androm. v. 598.
3) Nicomach. Geras. Arithm. L. 2. p. 28.

I Theil. Viertes Capitel.
Gebaͤudes ſahen, und durch die taͤgliche Gelegenheit das ſchoͤnſte Nackende
zu ſehen, wurde ihre Einbildung erhitzt, und die Schoͤnheit der Formen
wurde ihnen eigen und gegenwaͤrtig. In Sparta uͤbeten ſich ſo gar junge
Maͤdgen entkleidet 1), oder faſt ganz entbloͤßt 2), im Ringen. Es waren
auch den Griechiſchen Kuͤnſtlern, da ſie ſich mit Betrachtung des Schoͤnen
anfiengen zu beſchaͤftigen, die aus beyden Geſchlechtern gleichſam vermiſchte
Natur Maͤnnlicher Jugend bereits bekannt, welche die Wolluſt der Aſia-
tiſchen Voͤlker in wohlgebildeten Knaben, durch Benehmung der Saamen-
gefaͤße hervorbrachte, um dadurch den ſchnellen Lauf der fluͤchtigen Jugend
einzuhalten. Unter den Joniſchen Griechen in Klein-Aſien wurde die
Schaffung ſolcher zweydeutigen Schoͤnheiten ein heiliger und Gottesdienſt-
licher Gebrauch in den verſchnittenen Prieſtern der Cybele.

In der ſchoͤnen Jugend fanden die Kuͤnſtler die Urſache der Schoͤnheit
in der Einheit, in der Mannigfaltigkeit, und in der Uebereinſtimmung.
Denn die Formen eines ſchoͤnen Koͤrpers ſind durch Linien beſtimmt, welche
beſtaͤndig ihren Mittelpunct veraͤndern, und fortgefuͤhrt niemals einen Cir-
kel beſchreiben, folglich einfacher, aber auch mannigfaltiger, als ein Cirkel,
welcher, ſo groß und ſo klein derſelbe immer iſt, eben den Mittelpunct hat,
und andere in ſich ſchließet, oder eingeſchloſſen wird. Dieſe Mannigfaltig-
keit wurde von den Griechen in Werken von aller Art 3) geſuchet, und dieſes
Syſtema ihrer Einſicht zeiget ſich auch in der Form ihrer Gefaͤße und Vaſen,
deren ſvelter und zierlicher Conturn nach eben der Regel, das iſt, durch
eine Linie gezogen iſt, die durch mehr Cirkel muß gefunden werden: denn
dieſe Werke haben alle eine Elliptiſche Figur, und hierinn beſtehet die
Schoͤnheit derſelben. Je mehr Einheit aber in der Verbindung der For-
men, und in der Ausfließung einer aus der andern iſt, deſto groͤßer iſt das
Schoͤne des Ganzen. Ein ſchoͤnes jugendliches Gewaͤchs aus ſolchen For-

men
1) Ariſtoph. Lyſiſtr. v. 82. Polluc. Onom. L. 4. Sect. 102.
2) Eurip. Androm. v. 598.
3) Nicomach. Geras. Arithm. L. 2. p. 28.
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[152/0202] I Theil. Viertes Capitel. Gebaͤudes ſahen, und durch die taͤgliche Gelegenheit das ſchoͤnſte Nackende zu ſehen, wurde ihre Einbildung erhitzt, und die Schoͤnheit der Formen wurde ihnen eigen und gegenwaͤrtig. In Sparta uͤbeten ſich ſo gar junge Maͤdgen entkleidet 1), oder faſt ganz entbloͤßt 2), im Ringen. Es waren auch den Griechiſchen Kuͤnſtlern, da ſie ſich mit Betrachtung des Schoͤnen anfiengen zu beſchaͤftigen, die aus beyden Geſchlechtern gleichſam vermiſchte Natur Maͤnnlicher Jugend bereits bekannt, welche die Wolluſt der Aſia- tiſchen Voͤlker in wohlgebildeten Knaben, durch Benehmung der Saamen- gefaͤße hervorbrachte, um dadurch den ſchnellen Lauf der fluͤchtigen Jugend einzuhalten. Unter den Joniſchen Griechen in Klein-Aſien wurde die Schaffung ſolcher zweydeutigen Schoͤnheiten ein heiliger und Gottesdienſt- licher Gebrauch in den verſchnittenen Prieſtern der Cybele. In der ſchoͤnen Jugend fanden die Kuͤnſtler die Urſache der Schoͤnheit in der Einheit, in der Mannigfaltigkeit, und in der Uebereinſtimmung. Denn die Formen eines ſchoͤnen Koͤrpers ſind durch Linien beſtimmt, welche beſtaͤndig ihren Mittelpunct veraͤndern, und fortgefuͤhrt niemals einen Cir- kel beſchreiben, folglich einfacher, aber auch mannigfaltiger, als ein Cirkel, welcher, ſo groß und ſo klein derſelbe immer iſt, eben den Mittelpunct hat, und andere in ſich ſchließet, oder eingeſchloſſen wird. Dieſe Mannigfaltig- keit wurde von den Griechen in Werken von aller Art 3) geſuchet, und dieſes Syſtema ihrer Einſicht zeiget ſich auch in der Form ihrer Gefaͤße und Vaſen, deren ſvelter und zierlicher Conturn nach eben der Regel, das iſt, durch eine Linie gezogen iſt, die durch mehr Cirkel muß gefunden werden: denn dieſe Werke haben alle eine Elliptiſche Figur, und hierinn beſtehet die Schoͤnheit derſelben. Je mehr Einheit aber in der Verbindung der For- men, und in der Ausfließung einer aus der andern iſt, deſto groͤßer iſt das Schoͤne des Ganzen. Ein ſchoͤnes jugendliches Gewaͤchs aus ſolchen For- men 1) Ariſtoph. Lyſiſtr. v. 82. Polluc. Onom. L. 4. Sect. 102. 2) Eurip. Androm. v. 598. 3) Nicomach. Geras. Arithm. L. 2. p. 28.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/202>, abgerufen am 29.03.2024.