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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
nachgemachten jugendlichen Idealischen Kopf wird er sicherer entscheiden
können. Ob gleich die berühmte Mcdusa, welche dennoch kein Bild der
höchsten Schönheit ist, von den besten neuern Künstlern, auch in eben der
Größe auszudrucken gesuchet worden, so wird dennoch das Original alle-
zeit kenntlich seyn; und eben dieses gilt von den Copien der Pallas des
Aspasius, welche Natter in gleicher Größe mit dem Originale, und an-
dere geschnitten haben. Man merke aber, daß ich hier bloß von Empfin-
dung und Bildung der Schönheit in engerem Verstande rede, nicht von
der Wissenschaft im Zeichnen und im Ausarbeiten: denn in Absicht des
letztern kann mehr Wissenschaft liegen, und angebracht werden in starken, als
in zärtlichen Figuren, und Laocoon ist ein viel gelehrteres Werk, als Apollo;
Agesander, der Meister der Hauptfigur des Laocoons, mußte auch ein weit
erfahrnerer und gründlicherer Künstler seyn, als es der Meister des Apollo
nöthig hatte. Aber dieser mußte mit einem erhabenern Geiste, und mit
einer zärtlichern Seele begabet seyn: Apollo hat das Erhabene, welches
im Laocoon nicht statt fand.

b Die Idea-
lische Schön-
heit.

Die Natur aber und das Gebäude der schönsten Körper ist selten ohne
Mängel, und hat Formen oder Theile, die sich in andern Körpern voll-
kommener finden oder denken lassen, und dieser Erfahrung gemäß verfuh-
ren diese weise Künstler, wie ein geschickter Gärtner, welcher verschiedene
Absenker von edlen Arten auf einen Stamm pfropfet; und wie eine Biene
aus vielen Blumen sammlet, so blieben die Begriffe der Schönheit nicht
auf das Individuelle einzelne Schöne eingeschränkt, wie es zuweilen die
Begriffe der alten und neuern Dichter, und der mehresten heutigen Künstler
sind, sondern sie suchten das Schöne aus vielen schönen Körpern zu verei-
nigen. Sie reinigten ihre Bilder von aller persönlichen Neigung, welche
unsern Geist von dem wahren Schönen abziehet. So sind die Augenbra-
nen der Liebste des Anacreons, welche unmerklich von einander getheilet
seyn sollten, eine eingebildete Schönheit persönlicher Neigung, so wie die-

[j][e][n]

I Theil. Viertes Capitel.
nachgemachten jugendlichen Idealiſchen Kopf wird er ſicherer entſcheiden
koͤnnen. Ob gleich die beruͤhmte Mcduſa, welche dennoch kein Bild der
hoͤchſten Schoͤnheit iſt, von den beſten neuern Kuͤnſtlern, auch in eben der
Groͤße auszudrucken geſuchet worden, ſo wird dennoch das Original alle-
zeit kenntlich ſeyn; und eben dieſes gilt von den Copien der Pallas des
Aſpaſius, welche Natter in gleicher Groͤße mit dem Originale, und an-
dere geſchnitten haben. Man merke aber, daß ich hier bloß von Empfin-
dung und Bildung der Schoͤnheit in engerem Verſtande rede, nicht von
der Wiſſenſchaft im Zeichnen und im Ausarbeiten: denn in Abſicht des
letztern kann mehr Wiſſenſchaft liegen, und angebracht werden in ſtarken, als
in zaͤrtlichen Figuren, und Laocoon iſt ein viel gelehrteres Werk, als Apollo;
Ageſander, der Meiſter der Hauptfigur des Laocoons, mußte auch ein weit
erfahrnerer und gruͤndlicherer Kuͤnſtler ſeyn, als es der Meiſter des Apollo
noͤthig hatte. Aber dieſer mußte mit einem erhabenern Geiſte, und mit
einer zaͤrtlichern Seele begabet ſeyn: Apollo hat das Erhabene, welches
im Laocoon nicht ſtatt fand.

β Die Idea-
liſche Schoͤn-
heit.

Die Natur aber und das Gebaͤude der ſchoͤnſten Koͤrper iſt ſelten ohne
Maͤngel, und hat Formen oder Theile, die ſich in andern Koͤrpern voll-
kommener finden oder denken laſſen, und dieſer Erfahrung gemaͤß verfuh-
ren dieſe weiſe Kuͤnſtler, wie ein geſchickter Gaͤrtner, welcher verſchiedene
Abſenker von edlen Arten auf einen Stamm pfropfet; und wie eine Biene
aus vielen Blumen ſammlet, ſo blieben die Begriffe der Schoͤnheit nicht
auf das Individuelle einzelne Schoͤne eingeſchraͤnkt, wie es zuweilen die
Begriffe der alten und neuern Dichter, und der mehreſten heutigen Kuͤnſtler
ſind, ſondern ſie ſuchten das Schoͤne aus vielen ſchoͤnen Koͤrpern zu verei-
nigen. Sie reinigten ihre Bilder von aller perſoͤnlichen Neigung, welche
unſern Geiſt von dem wahren Schoͤnen abziehet. So ſind die Augenbra-
nen der Liebſte des Anacreons, welche unmerklich von einander getheilet
ſeyn ſollten, eine eingebildete Schoͤnheit perſoͤnlicher Neigung, ſo wie die-

[j][e][n]
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[154/0204] I Theil. Viertes Capitel. nachgemachten jugendlichen Idealiſchen Kopf wird er ſicherer entſcheiden koͤnnen. Ob gleich die beruͤhmte Mcduſa, welche dennoch kein Bild der hoͤchſten Schoͤnheit iſt, von den beſten neuern Kuͤnſtlern, auch in eben der Groͤße auszudrucken geſuchet worden, ſo wird dennoch das Original alle- zeit kenntlich ſeyn; und eben dieſes gilt von den Copien der Pallas des Aſpaſius, welche Natter in gleicher Groͤße mit dem Originale, und an- dere geſchnitten haben. Man merke aber, daß ich hier bloß von Empfin- dung und Bildung der Schoͤnheit in engerem Verſtande rede, nicht von der Wiſſenſchaft im Zeichnen und im Ausarbeiten: denn in Abſicht des letztern kann mehr Wiſſenſchaft liegen, und angebracht werden in ſtarken, als in zaͤrtlichen Figuren, und Laocoon iſt ein viel gelehrteres Werk, als Apollo; Ageſander, der Meiſter der Hauptfigur des Laocoons, mußte auch ein weit erfahrnerer und gruͤndlicherer Kuͤnſtler ſeyn, als es der Meiſter des Apollo noͤthig hatte. Aber dieſer mußte mit einem erhabenern Geiſte, und mit einer zaͤrtlichern Seele begabet ſeyn: Apollo hat das Erhabene, welches im Laocoon nicht ſtatt fand. Die Natur aber und das Gebaͤude der ſchoͤnſten Koͤrper iſt ſelten ohne Maͤngel, und hat Formen oder Theile, die ſich in andern Koͤrpern voll- kommener finden oder denken laſſen, und dieſer Erfahrung gemaͤß verfuh- ren dieſe weiſe Kuͤnſtler, wie ein geſchickter Gaͤrtner, welcher verſchiedene Abſenker von edlen Arten auf einen Stamm pfropfet; und wie eine Biene aus vielen Blumen ſammlet, ſo blieben die Begriffe der Schoͤnheit nicht auf das Individuelle einzelne Schoͤne eingeſchraͤnkt, wie es zuweilen die Begriffe der alten und neuern Dichter, und der mehreſten heutigen Kuͤnſtler ſind, ſondern ſie ſuchten das Schoͤne aus vielen ſchoͤnen Koͤrpern zu verei- nigen. Sie reinigten ihre Bilder von aller perſoͤnlichen Neigung, welche unſern Geiſt von dem wahren Schoͤnen abziehet. So ſind die Augenbra- nen der Liebſte des Anacreons, welche unmerklich von einander getheilet ſeyn ſollten, eine eingebildete Schoͤnheit perſoͤnlicher Neigung, ſo wie die- jen

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/204>, abgerufen am 28.03.2024.