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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Griechen.
jenige, welche Daphnis beym Theocritus 1) liebte, mit zusammenlausen-
den Augenbranen 2). Ein späterer Griechischer Dichter 3) hat in dem
Urtheile des Paris diese Form der Augenbranen, welche er der schönsten
unter den drey Göttinnen giebt, vermuthlich aus angeführten Stellen ge-
zogen. Die Begriffe unserer Bildhauer, und zwar derjenigen, die das
Alte nachzuahmen vorgeben, sind im Schönen einzeln und eingeschränkt,
wenn sie zum Muster einer großen Schönheit den Kopf des Antinous
wählen, welcher die Augenbranen gesenkt hat, die ihm etwas herbes und
melancholisches geben.

Es fällete Bernini ein sehr ungegründetes Urtheil 4), wenn er die
Wahl der schönsten Theile, welche Zeuxis an fünf Schönheiten zu Croton
machete, da er eine Juno daselbst zu malen hatte, für ungereimt und für
erdichtet ansah, weil er sich einbildete, ein bestimmtes Theil oder Glied
reime sich zu keinem andern Körper, als dem es eigen ist. Andere haben
keine als Individuelle Schönheiten denken können, und ihr Lehrsatz ist:
die alten Statuen sind schön, weil sie der schönen Natur ähnlich sind,
und die Natur wird allezeit schön seyn, wenn sie den schönen Statuen ähnlich
ist 5). Der vordere Satz ist wahr, aber nicht einzeln, sondern gesammlet;
(collective) der zweyte Satz aber ist falsch: denn es ist schwer, ja fast
unmöglich, ein Gewächs zu finden, wie der Vaticanische Apollo ist.

Der Geist vernünftig denkender Wesen hat eine eingepflanzte Nei-
gung und Begierde, sich über die Materie in die geistige Sphäre der Be-

griffe
1) Idyl. 8. v. 72.
2) Die Uebersetzer geben das Wort sunophrus, junctis superciliis, wie es die Zusammen-
setzung desselben erfordert; man könnte es aber nach der Auslegung des Hesychius Stolz
übersetzen: Unterdessen sagt man , daß die Araber solche Augenbranen, welche zu-
sammenlaufen, schön finden.
*) La Roque Moeurs & Cout. des Arab. p. 217.
3) Coluth.
4) Boldinuc. Vit. di Bernin. p. 70.
5) des Piles Rem. sur l' Art de peint. de Fresnoy, p. 107.
U 2

Von der Kunſt unter den Griechen.
jenige, welche Daphnis beym Theocritus 1) liebte, mit zuſammenlauſen-
den Augenbranen 2). Ein ſpaͤterer Griechiſcher Dichter 3) hat in dem
Urtheile des Paris dieſe Form der Augenbranen, welche er der ſchoͤnſten
unter den drey Goͤttinnen giebt, vermuthlich aus angefuͤhrten Stellen ge-
zogen. Die Begriffe unſerer Bildhauer, und zwar derjenigen, die das
Alte nachzuahmen vorgeben, ſind im Schoͤnen einzeln und eingeſchraͤnkt,
wenn ſie zum Muſter einer großen Schoͤnheit den Kopf des Antinous
waͤhlen, welcher die Augenbranen geſenkt hat, die ihm etwas herbes und
melancholiſches geben.

Es faͤllete Bernini ein ſehr ungegruͤndetes Urtheil 4), wenn er die
Wahl der ſchoͤnſten Theile, welche Zeuxis an fuͤnf Schoͤnheiten zu Croton
machete, da er eine Juno daſelbſt zu malen hatte, fuͤr ungereimt und fuͤr
erdichtet anſah, weil er ſich einbildete, ein beſtimmtes Theil oder Glied
reime ſich zu keinem andern Koͤrper, als dem es eigen iſt. Andere haben
keine als Individuelle Schoͤnheiten denken koͤnnen, und ihr Lehrſatz iſt:
die alten Statuen ſind ſchoͤn, weil ſie der ſchoͤnen Natur aͤhnlich ſind,
und die Natur wird allezeit ſchoͤn ſeyn, wenn ſie den ſchoͤnen Statuen aͤhnlich
iſt 5). Der vordere Satz iſt wahr, aber nicht einzeln, ſondern geſammlet;
(collective) der zweyte Satz aber iſt falſch: denn es iſt ſchwer, ja faſt
unmoͤglich, ein Gewaͤchs zu finden, wie der Vaticaniſche Apollo iſt.

Der Geiſt vernuͤnftig denkender Weſen hat eine eingepflanzte Nei-
gung und Begierde, ſich uͤber die Materie in die geiſtige Sphaͤre der Be-

griffe
1) Idyl. 8. v. 72.
2) Die Ueberſetzer geben das Wort σύνοφρυς, junctis ſuperciliis, wie es die Zuſammen-
ſetzung deſſelben erfordert; man koͤnnte es aber nach der Auslegung des Heſychius Stolz
uͤberſetzen: Unterdeſſen ſagt man , daß die Araber ſolche Augenbranen, welche zu-
ſammenlaufen, ſchoͤn finden.
*) La Roque Moeurs & Cout. des Arab. p. 217.
3) Coluth.
4) Boldinuc. Vit. di Bernin. p. 70.
5) des Piles Rem. ſur l’ Art de peint. de Fresnoy, p. 107.
U 2
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[155/0205] Von der Kunſt unter den Griechen. jenige, welche Daphnis beym Theocritus 1) liebte, mit zuſammenlauſen- den Augenbranen 2). Ein ſpaͤterer Griechiſcher Dichter 3) hat in dem Urtheile des Paris dieſe Form der Augenbranen, welche er der ſchoͤnſten unter den drey Goͤttinnen giebt, vermuthlich aus angefuͤhrten Stellen ge- zogen. Die Begriffe unſerer Bildhauer, und zwar derjenigen, die das Alte nachzuahmen vorgeben, ſind im Schoͤnen einzeln und eingeſchraͤnkt, wenn ſie zum Muſter einer großen Schoͤnheit den Kopf des Antinous waͤhlen, welcher die Augenbranen geſenkt hat, die ihm etwas herbes und melancholiſches geben. Es faͤllete Bernini ein ſehr ungegruͤndetes Urtheil 4), wenn er die Wahl der ſchoͤnſten Theile, welche Zeuxis an fuͤnf Schoͤnheiten zu Croton machete, da er eine Juno daſelbſt zu malen hatte, fuͤr ungereimt und fuͤr erdichtet anſah, weil er ſich einbildete, ein beſtimmtes Theil oder Glied reime ſich zu keinem andern Koͤrper, als dem es eigen iſt. Andere haben keine als Individuelle Schoͤnheiten denken koͤnnen, und ihr Lehrſatz iſt: die alten Statuen ſind ſchoͤn, weil ſie der ſchoͤnen Natur aͤhnlich ſind, und die Natur wird allezeit ſchoͤn ſeyn, wenn ſie den ſchoͤnen Statuen aͤhnlich iſt 5). Der vordere Satz iſt wahr, aber nicht einzeln, ſondern geſammlet; (collective) der zweyte Satz aber iſt falſch: denn es iſt ſchwer, ja faſt unmoͤglich, ein Gewaͤchs zu finden, wie der Vaticaniſche Apollo iſt. Der Geiſt vernuͤnftig denkender Weſen hat eine eingepflanzte Nei- gung und Begierde, ſich uͤber die Materie in die geiſtige Sphaͤre der Be- griffe 1) Idyl. 8. v. 72. 2) Die Ueberſetzer geben das Wort σύνοφρυς, junctis ſuperciliis, wie es die Zuſammen- ſetzung deſſelben erfordert; man koͤnnte es aber nach der Auslegung des Heſychius Stolz uͤberſetzen: Unterdeſſen ſagt man , daß die Araber ſolche Augenbranen, welche zu- ſammenlaufen, ſchoͤn finden. *⁾ La Roque Moeurs & Cout. des Arab. p. 217. 3) Coluth. 4) Boldinuc. Vit. di Bernin. p. 70. 5) des Piles Rem. ſur l’ Art de peint. de Fresnoy, p. 107. U 2

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/205>, abgerufen am 19.04.2024.