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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
griffe zu erheben, und dessen wahre Zufriedenheit ist die Hervorbringung
neuer und verfeinerter Ideen. Die großen Künstler der Griechen, die sich
gleichsam als neue Schöpfer anzusehen hatten, ob sie gleich weniger für
den Verstand, als für die Sinne, arbeiteten, suchten den harten Gegenstand
der Materie zu überwinden, und, wenn es möglich gewesen wäre, dieselbe
zu begeistern: dieses edle Bestreben derselben auch in früheren Zeiten der
Kunst gab Gelegenheit zu der Fabel von Pygmalions Statue. Denn durch
ihre Hände wurden die Gegenstände heiliger Verehrung hervorgebracht,
welche, um Ehrfurcht zu erwecken, Bilder von höheren Naturen genommen zu
seyn scheinen mußten. Zu diesen Bildern gaben die ersten Stifter der Religion,
welches Dichter waren, die hohen Begriffe, und diese gaben der Einbil-
dung Flügel, ihr Werk über sich selbst und über das Sinnliche zu erheben.
Was konnte Menschlichen Begriffen von sinnlichen Gottheiten würdiger,
und für die Einbildung reizender seyn, als der Zustand einer ewigen Jugend,
und des Frühlings des Lebens, wovon uns selbst das Andenken in spätern
Jahren frölich machen kann? Dieses war dem Begriffe von der Unver-
änderlichkeit des göttlichen Wesens gemäß, und ein schönes jugendliches
Gewächs der Gottheit erweckte Zärtlichkeit und Liebe, welche die Seele in
einen süßen Traum der Entzückung versetzen können, worinn die menschli-
che Seeligkeit bestehet, die in allen Religionen, gut oder übel verstanden,
gesuchet worden.

Unter den Weiblichen Gottheiten wurde der Diana und der Pallas
eine beständige Jungferschaft beygelegt, und die andern Göttinnen sollten
dieselbe eingebüßet, wiederum erlangen können; Juno, so oft sie sich in
dem Brunnen Canathus badete. Daher sind die Brüste der Göttinnen
und der Amazonen, wie an jungen Mädgens, denen Lucina den Gürtel noch
nicht aufgelöset hat, und welche die Frucht der Liebe noch nicht empfangen
haben; ich will sagen, die Warze ist auf den Brüsten nicht sichtbar. Es

sey

I Theil. Viertes Capitel.
griffe zu erheben, und deſſen wahre Zufriedenheit iſt die Hervorbringung
neuer und verfeinerter Ideen. Die großen Kuͤnſtler der Griechen, die ſich
gleichſam als neue Schoͤpfer anzuſehen hatten, ob ſie gleich weniger fuͤr
den Verſtand, als fuͤr die Sinne, arbeiteten, ſuchten den harten Gegenſtand
der Materie zu uͤberwinden, und, wenn es moͤglich geweſen waͤre, dieſelbe
zu begeiſtern: dieſes edle Beſtreben derſelben auch in fruͤheren Zeiten der
Kunſt gab Gelegenheit zu der Fabel von Pygmalions Statue. Denn durch
ihre Haͤnde wurden die Gegenſtaͤnde heiliger Verehrung hervorgebracht,
welche, um Ehrfurcht zu erwecken, Bilder von hoͤheren Naturen genommen zu
ſeyn ſcheinen mußten. Zu dieſen Bildern gaben die erſten Stifter der Religion,
welches Dichter waren, die hohen Begriffe, und dieſe gaben der Einbil-
dung Fluͤgel, ihr Werk uͤber ſich ſelbſt und uͤber das Sinnliche zu erheben.
Was konnte Menſchlichen Begriffen von ſinnlichen Gottheiten wuͤrdiger,
und fuͤr die Einbildung reizender ſeyn, als der Zuſtand einer ewigen Jugend,
und des Fruͤhlings des Lebens, wovon uns ſelbſt das Andenken in ſpaͤtern
Jahren froͤlich machen kann? Dieſes war dem Begriffe von der Unver-
aͤnderlichkeit des goͤttlichen Weſens gemaͤß, und ein ſchoͤnes jugendliches
Gewaͤchs der Gottheit erweckte Zaͤrtlichkeit und Liebe, welche die Seele in
einen ſuͤßen Traum der Entzuͤckung verſetzen koͤnnen, worinn die menſchli-
che Seeligkeit beſtehet, die in allen Religionen, gut oder uͤbel verſtanden,
geſuchet worden.

Unter den Weiblichen Gottheiten wurde der Diana und der Pallas
eine beſtaͤndige Jungferſchaft beygelegt, und die andern Goͤttinnen ſollten
dieſelbe eingebuͤßet, wiederum erlangen koͤnnen; Juno, ſo oft ſie ſich in
dem Brunnen Canathus badete. Daher ſind die Bruͤſte der Goͤttinnen
und der Amazonen, wie an jungen Maͤdgens, denen Lucina den Guͤrtel noch
nicht aufgeloͤſet hat, und welche die Frucht der Liebe noch nicht empfangen
haben; ich will ſagen, die Warze iſt auf den Bruͤſten nicht ſichtbar. Es

ſey
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[156/0206] I Theil. Viertes Capitel. griffe zu erheben, und deſſen wahre Zufriedenheit iſt die Hervorbringung neuer und verfeinerter Ideen. Die großen Kuͤnſtler der Griechen, die ſich gleichſam als neue Schoͤpfer anzuſehen hatten, ob ſie gleich weniger fuͤr den Verſtand, als fuͤr die Sinne, arbeiteten, ſuchten den harten Gegenſtand der Materie zu uͤberwinden, und, wenn es moͤglich geweſen waͤre, dieſelbe zu begeiſtern: dieſes edle Beſtreben derſelben auch in fruͤheren Zeiten der Kunſt gab Gelegenheit zu der Fabel von Pygmalions Statue. Denn durch ihre Haͤnde wurden die Gegenſtaͤnde heiliger Verehrung hervorgebracht, welche, um Ehrfurcht zu erwecken, Bilder von hoͤheren Naturen genommen zu ſeyn ſcheinen mußten. Zu dieſen Bildern gaben die erſten Stifter der Religion, welches Dichter waren, die hohen Begriffe, und dieſe gaben der Einbil- dung Fluͤgel, ihr Werk uͤber ſich ſelbſt und uͤber das Sinnliche zu erheben. Was konnte Menſchlichen Begriffen von ſinnlichen Gottheiten wuͤrdiger, und fuͤr die Einbildung reizender ſeyn, als der Zuſtand einer ewigen Jugend, und des Fruͤhlings des Lebens, wovon uns ſelbſt das Andenken in ſpaͤtern Jahren froͤlich machen kann? Dieſes war dem Begriffe von der Unver- aͤnderlichkeit des goͤttlichen Weſens gemaͤß, und ein ſchoͤnes jugendliches Gewaͤchs der Gottheit erweckte Zaͤrtlichkeit und Liebe, welche die Seele in einen ſuͤßen Traum der Entzuͤckung verſetzen koͤnnen, worinn die menſchli- che Seeligkeit beſtehet, die in allen Religionen, gut oder uͤbel verſtanden, geſuchet worden. Unter den Weiblichen Gottheiten wurde der Diana und der Pallas eine beſtaͤndige Jungferſchaft beygelegt, und die andern Goͤttinnen ſollten dieſelbe eingebuͤßet, wiederum erlangen koͤnnen; Juno, ſo oft ſie ſich in dem Brunnen Canathus badete. Daher ſind die Bruͤſte der Goͤttinnen und der Amazonen, wie an jungen Maͤdgens, denen Lucina den Guͤrtel noch nicht aufgeloͤſet hat, und welche die Frucht der Liebe noch nicht empfangen haben; ich will ſagen, die Warze iſt auf den Bruͤſten nicht ſichtbar. Es ſey

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/206>, abgerufen am 20.04.2024.