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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
vorzustellen, das ist, an welchem das geringste Fäserchen die Stärke, die
Kühnheit, und das Feuer, welches ihn erreget, ausdrücke 1): ein solcher
Mars findet sich nicht im ganzen Alterthume. Die drey schönsten Figuren
desselben sind in der Villa Ludovisi 2) in Lebensgröße, welcher sitzet, und
die Liebe zu den Füßen stehen hat: an demselben ist, wie in allen göttlichen
Figuren, keine Nerve noch Ader sichtbar; auf einem der zween schönen Leuch-
ter von Marmor im Pallaste Barberini, und auf dem im vorigen Capitel
beschriebenen runden Werke im Campidoglio, ist er stehend. Alle drey aber
sind im Jünglingsalter, und im ruhigen Stande und Handlung vorgestel-
let: als ein solcher junger Held findet er sich auf Münzen, und auf geschnit-
tenen Steinen. Wenn sich aber ein bärtiger Mars auf andern Münzen,
und auf geschnittenen Steinen 3) findet, so wäre ich fast der Meynung,
daß dieser denjenigen Mars vorstelle, welchen die Griechen Enualios nen-
nen, der von jenem, dem Obern Mars 4), verschieden, und dessen Gehül-
dd Die Ju-
gend des Her-
cules.
fe 5) war. Hercules findet sich ebenfalls in der schönsten Jugend vorge-
stellet, mit Zügen, welche den Unterscheid des Geschlechts fast zweydeutig
lassen, wie nach der Meynung der mit ihrer Gunst willfährigen Glycera 6)
die Schönheit eines jungen Menschen seyn sollte; und also ist er auf einem
Carniole 7) des Stoßischen Musei geschnitten. Mehrentheils aber wäch-
set dessen Stirn an mit einer ründlichen feisten Völligkeit, welche den Au-
genknochen wölbet und gleichsam aufblähet, zu Andeutung seiner Stärke
und beständigen Arbeit in Unmuth, welche, wie der Dichter sagt 8), das
Herz aufschwellet.

hh Die Ju-
gend verschnit-
tener Naturen
im Bacchus.

Die zwote Art Idealischer Jugend von verschnittenen Naturen ge-
nommen, ist mit der Männlichen Jugend vermischt im Bacchus gebildet,

und
1) Watelet de la Peint. Chant. 1. p. 13.
2) Maffei Stat. n. 66.
3) Descr. des Pier. gr. du Cab. de Stosch, p. 159. seq.
4) Sophoc. Aj. v. 179.
5) Bergler. Not. in Aristoph. Pac. v. 456.
6) Athen. Deipn. L. 13. p. 605. D.
7) Descr. &c. p. 337.
8) Il. e. v. 550. 642.

I Theil. Viertes Capitel.
vorzuſtellen, das iſt, an welchem das geringſte Faͤſerchen die Staͤrke, die
Kuͤhnheit, und das Feuer, welches ihn erreget, ausdruͤcke 1): ein ſolcher
Mars findet ſich nicht im ganzen Alterthume. Die drey ſchoͤnſten Figuren
deſſelben ſind in der Villa Ludoviſi 2) in Lebensgroͤße, welcher ſitzet, und
die Liebe zu den Fuͤßen ſtehen hat: an demſelben iſt, wie in allen goͤttlichen
Figuren, keine Nerve noch Ader ſichtbar; auf einem der zween ſchoͤnen Leuch-
ter von Marmor im Pallaſte Barberini, und auf dem im vorigen Capitel
beſchriebenen runden Werke im Campidoglio, iſt er ſtehend. Alle drey aber
ſind im Juͤnglingsalter, und im ruhigen Stande und Handlung vorgeſtel-
let: als ein ſolcher junger Held findet er ſich auf Muͤnzen, und auf geſchnit-
tenen Steinen. Wenn ſich aber ein baͤrtiger Mars auf andern Muͤnzen,
und auf geſchnittenen Steinen 3) findet, ſo waͤre ich faſt der Meynung,
daß dieſer denjenigen Mars vorſtelle, welchen die Griechen Ενυάλιος nen-
nen, der von jenem, dem Obern Mars 4), verſchieden, und deſſen Gehuͤl-
דד Die Ju-
gend des Her-
cules.
fe 5) war. Hercules findet ſich ebenfalls in der ſchoͤnſten Jugend vorge-
ſtellet, mit Zuͤgen, welche den Unterſcheid des Geſchlechts faſt zweydeutig
laſſen, wie nach der Meynung der mit ihrer Gunſt willfaͤhrigen Glycera 6)
die Schoͤnheit eines jungen Menſchen ſeyn ſollte; und alſo iſt er auf einem
Carniole 7) des Stoßiſchen Muſei geſchnitten. Mehrentheils aber waͤch-
ſet deſſen Stirn an mit einer ruͤndlichen feiſten Voͤlligkeit, welche den Au-
genknochen woͤlbet und gleichſam aufblaͤhet, zu Andeutung ſeiner Staͤrke
und beſtaͤndigen Arbeit in Unmuth, welche, wie der Dichter ſagt 8), das
Herz aufſchwellet.

הה Die Ju-
gend veꝛſchnit-
tener Naturen
im Bacchus.

Die zwote Art Idealiſcher Jugend von verſchnittenen Naturen ge-
nommen, iſt mit der Maͤnnlichen Jugend vermiſcht im Bacchus gebildet,

und
1) Watelet de la Peint. Chant. 1. p. 13.
2) Maffei Stat. n. 66.
3) Deſcr. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 159. ſeq.
4) Sophoc. Aj. v. 179.
5) Bergler. Not. in Ariſtoph. Pac. v. 456.
6) Athen. Deipn. L. 13. p. 605. D.
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[160/0210] I Theil. Viertes Capitel. vorzuſtellen, das iſt, an welchem das geringſte Faͤſerchen die Staͤrke, die Kuͤhnheit, und das Feuer, welches ihn erreget, ausdruͤcke 1): ein ſolcher Mars findet ſich nicht im ganzen Alterthume. Die drey ſchoͤnſten Figuren deſſelben ſind in der Villa Ludoviſi 2) in Lebensgroͤße, welcher ſitzet, und die Liebe zu den Fuͤßen ſtehen hat: an demſelben iſt, wie in allen goͤttlichen Figuren, keine Nerve noch Ader ſichtbar; auf einem der zween ſchoͤnen Leuch- ter von Marmor im Pallaſte Barberini, und auf dem im vorigen Capitel beſchriebenen runden Werke im Campidoglio, iſt er ſtehend. Alle drey aber ſind im Juͤnglingsalter, und im ruhigen Stande und Handlung vorgeſtel- let: als ein ſolcher junger Held findet er ſich auf Muͤnzen, und auf geſchnit- tenen Steinen. Wenn ſich aber ein baͤrtiger Mars auf andern Muͤnzen, und auf geſchnittenen Steinen 3) findet, ſo waͤre ich faſt der Meynung, daß dieſer denjenigen Mars vorſtelle, welchen die Griechen Ενυάλιος nen- nen, der von jenem, dem Obern Mars 4), verſchieden, und deſſen Gehuͤl- fe 5) war. Hercules findet ſich ebenfalls in der ſchoͤnſten Jugend vorge- ſtellet, mit Zuͤgen, welche den Unterſcheid des Geſchlechts faſt zweydeutig laſſen, wie nach der Meynung der mit ihrer Gunſt willfaͤhrigen Glycera 6) die Schoͤnheit eines jungen Menſchen ſeyn ſollte; und alſo iſt er auf einem Carniole 7) des Stoßiſchen Muſei geſchnitten. Mehrentheils aber waͤch- ſet deſſen Stirn an mit einer ruͤndlichen feiſten Voͤlligkeit, welche den Au- genknochen woͤlbet und gleichſam aufblaͤhet, zu Andeutung ſeiner Staͤrke und beſtaͤndigen Arbeit in Unmuth, welche, wie der Dichter ſagt 8), das Herz aufſchwellet. דד Die Ju- gend des Her- cules. Die zwote Art Idealiſcher Jugend von verſchnittenen Naturen ge- nommen, iſt mit der Maͤnnlichen Jugend vermiſcht im Bacchus gebildet, und 1) Watelet de la Peint. Chant. 1. p. 13. 2) Maffei Stat. n. 66. 3) Deſcr. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 159. ſeq. 4) Sophoc. Aj. v. 179. 5) Bergler. Not. in Ariſtoph. Pac. v. 456. 6) Athen. Deipn. L. 13. p. 605. D. 7) Deſcr. &c. p. 337. 8) Il. έ. v. 550. 642.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/210>, abgerufen am 19.04.2024.