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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.

Von dieser Betrachtung kann man sich in zweyen der schönsten Werke
des Alterthums überzeugen, von welchen das eine ein Bild der Todes-
furcht, das andere des höchsten Leidens und Schmerzens ist. Die Töch-
ter der Niobe, auf welche Diana ihre tödtlichen Pfeile gerichtet, sind in
dieser unbeschreiblichen Angst, mit übertäubter und erstarreter Empfindung
vorgestellet, wenn der gegenwärtige Tod der Seele alles Vermögen zu
denken nimmt; und von solcher entseelten Angst giebt die Fabel ein Bild
durch die Verwandlung der Niobe in einen Felsen: daher führete Aeschylus
die Niobe stillschweigend auf in seinem Trauerspiele 1). Ein solcher Zu-
stand, wo Empfindung und Ueberlegung aufhöret, und welcher der Gleich-
gültigkeit ähnlich ist, verändert keine Züge der Gestalt und der Bildung,
und der große Künstler konnte hier die höchste Schönheit bilden, so wie er
sie gebildet hat: denn Niobe und ihre Töchter sind und bleiben die höchsten
Ideen derselben. Laocoon ist ein Bild des empfindlichsten Schmerzens,
welcher hier in allen Muskeln, Nerven und Adern wirket; das Geblüt
ist in höchster Wallung durch den tödtlichen Biß der Schlangen, und alle
Theile des Körpers sind leidend und angestrenget ausgedrückt, wodurch
der Künstler alle Triebfedern der Natur sichtbar gemachet, und seine hohe
Wissenschaft und Kunst gezeiget hat. In Vorstellung dieses äußersten
Leidens aber erscheinet der geprüfete Geist eines großen Mannes, der mit
der Noth ringet, und den Ausbruch der Empfindung einhalten und unter-
drücken will, wie ich in Beschreibung dieser Statue im zweyten Theile dem
Leser habe suchen vor Augen zu stellen. Auch den Philoctetes,
Quod ejulatu, questu, gemitu, fremitibus
Resonando multum, flebiles voces refert,

Ennius ap. Clc. de Fin. L. 2. c. 29.

werden die weisen Künstler mehr nach den Grundsätzen der Weisheit, als
nach dem Bilde der Dichter, vorgestellet haben. Der rasende Ajax des be-

rühmten
1) Schol. ad Aesch. Prom. v. 435.
I Theil. Viertes Capitel.

Von dieſer Betrachtung kann man ſich in zweyen der ſchoͤnſten Werke
des Alterthums uͤberzeugen, von welchen das eine ein Bild der Todes-
furcht, das andere des hoͤchſten Leidens und Schmerzens iſt. Die Toͤch-
ter der Niobe, auf welche Diana ihre toͤdtlichen Pfeile gerichtet, ſind in
dieſer unbeſchreiblichen Angſt, mit uͤbertaͤubter und erſtarreter Empfindung
vorgeſtellet, wenn der gegenwaͤrtige Tod der Seele alles Vermoͤgen zu
denken nimmt; und von ſolcher entſeelten Angſt giebt die Fabel ein Bild
durch die Verwandlung der Niobe in einen Felſen: daher fuͤhrete Aeſchylus
die Niobe ſtillſchweigend auf in ſeinem Trauerſpiele 1). Ein ſolcher Zu-
ſtand, wo Empfindung und Ueberlegung aufhoͤret, und welcher der Gleich-
guͤltigkeit aͤhnlich iſt, veraͤndert keine Zuͤge der Geſtalt und der Bildung,
und der große Kuͤnſtler konnte hier die hoͤchſte Schoͤnheit bilden, ſo wie er
ſie gebildet hat: denn Niobe und ihre Toͤchter ſind und bleiben die hoͤchſten
Ideen derſelben. Laocoon iſt ein Bild des empfindlichſten Schmerzens,
welcher hier in allen Muskeln, Nerven und Adern wirket; das Gebluͤt
iſt in hoͤchſter Wallung durch den toͤdtlichen Biß der Schlangen, und alle
Theile des Koͤrpers ſind leidend und angeſtrenget ausgedruͤckt, wodurch
der Kuͤnſtler alle Triebfedern der Natur ſichtbar gemachet, und ſeine hohe
Wiſſenſchaft und Kunſt gezeiget hat. In Vorſtellung dieſes aͤußerſten
Leidens aber erſcheinet der gepruͤfete Geiſt eines großen Mannes, der mit
der Noth ringet, und den Ausbruch der Empfindung einhalten und unter-
druͤcken will, wie ich in Beſchreibung dieſer Statue im zweyten Theile dem
Leſer habe ſuchen vor Augen zu ſtellen. Auch den Philoctetes,
Quod ejulatu, queſtu, gemitu, fremitibus
Reſonando multum, flebiles voces refert,

Ennius ap. Clc. de Fin. L. 2. c. 29.

werden die weiſen Kuͤnſtler mehr nach den Grundſaͤtzen der Weisheit, als
nach dem Bilde der Dichter, vorgeſtellet haben. Der raſende Ajax des be-

ruͤhmten
1) Schol. ad Aeſch. Prom. v. 435.
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[170/0220] I Theil. Viertes Capitel. Von dieſer Betrachtung kann man ſich in zweyen der ſchoͤnſten Werke des Alterthums uͤberzeugen, von welchen das eine ein Bild der Todes- furcht, das andere des hoͤchſten Leidens und Schmerzens iſt. Die Toͤch- ter der Niobe, auf welche Diana ihre toͤdtlichen Pfeile gerichtet, ſind in dieſer unbeſchreiblichen Angſt, mit uͤbertaͤubter und erſtarreter Empfindung vorgeſtellet, wenn der gegenwaͤrtige Tod der Seele alles Vermoͤgen zu denken nimmt; und von ſolcher entſeelten Angſt giebt die Fabel ein Bild durch die Verwandlung der Niobe in einen Felſen: daher fuͤhrete Aeſchylus die Niobe ſtillſchweigend auf in ſeinem Trauerſpiele 1). Ein ſolcher Zu- ſtand, wo Empfindung und Ueberlegung aufhoͤret, und welcher der Gleich- guͤltigkeit aͤhnlich iſt, veraͤndert keine Zuͤge der Geſtalt und der Bildung, und der große Kuͤnſtler konnte hier die hoͤchſte Schoͤnheit bilden, ſo wie er ſie gebildet hat: denn Niobe und ihre Toͤchter ſind und bleiben die hoͤchſten Ideen derſelben. Laocoon iſt ein Bild des empfindlichſten Schmerzens, welcher hier in allen Muskeln, Nerven und Adern wirket; das Gebluͤt iſt in hoͤchſter Wallung durch den toͤdtlichen Biß der Schlangen, und alle Theile des Koͤrpers ſind leidend und angeſtrenget ausgedruͤckt, wodurch der Kuͤnſtler alle Triebfedern der Natur ſichtbar gemachet, und ſeine hohe Wiſſenſchaft und Kunſt gezeiget hat. In Vorſtellung dieſes aͤußerſten Leidens aber erſcheinet der gepruͤfete Geiſt eines großen Mannes, der mit der Noth ringet, und den Ausbruch der Empfindung einhalten und unter- druͤcken will, wie ich in Beſchreibung dieſer Statue im zweyten Theile dem Leſer habe ſuchen vor Augen zu ſtellen. Auch den Philoctetes, Quod ejulatu, queſtu, gemitu, fremitibus Reſonando multum, flebiles voces refert, Ennius ap. Clc. de Fin. L. 2. c. 29. werden die weiſen Kuͤnſtler mehr nach den Grundſaͤtzen der Weisheit, als nach dem Bilde der Dichter, vorgeſtellet haben. Der raſende Ajax des be- ruͤhmten 1) Schol. ad Aeſch. Prom. v. 435.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/220>, abgerufen am 18.04.2024.