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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
vermuthen, daß diese Figur nach der Natur gearbeitet worden, wo dieses
Theil also beschaffen gewesen seyn würde. Ich will aber auf diese Art die
wirklichen Vergehungen nicht bemänteln: denn wenn das Ohr nicht mit
der Nase gleich stehet, wie es seyn sollte, sondern ist, wie an dem Brust-
bilde eines Indischen Bacchus des Herrn Cardinals Alexander Albani, so
ist dieses ein Fehler, welcher nicht zu entschuldigen ist.

g sonderlich
in Absicht auf
das Maaß des
Fußes, wo die
irrigen Ein-
wendungen
einiger Scri-
benten wider-
leget werden.

Die Regeln der Proportion, so wie sie in der Kunst von dem Ver-
hältnisse des Menschlichen Körpers genommen worden, sind wahrscheinlich
von den Bildhauern zuerst bestimmet, und nachher auch Regeln in der
Baukunst geworden. Der Fuß war bey den Alten die Regel in allen
großen Ausmessungen, und die Bildhauer setzten nach der Länge desselben
das Maaß ihrer Statuen, und gaben denselben Sechs Längen des Fußes,
wie Vitruvius bezeuget 1): den der Fuß hat ein bestimmteres Maaß, als
der Kopf, oder das Gesicht, wonach die neueren Maler und Bildhauer ins-
gemein rechnen. Pythagoras gab daher die Länge des Hercules an 2),
nach dem Maaße des Fußes, mit welchem er das Olympische Stadium
zu Elis ausgemessen. Hieraus aber ist mit dem Lomazzo 3) auf keine
Weise zu schließen, daß der Fuß desselben das siebente Theil seiner Länge
gehalten; und was eben dieser Scribent gleichsam als ein Augenzeuge ver-
sichert 4) von den bestimmten Proportionen der alten Künstler an verschie-
denen Gottheiten, wie zehen Gesichter für eine Venus, neun Gesichter
für eine Juno, acht Gesichter für einen Neptunus, und sieben für einen
Hercules, ist mit Zuversicht auf guten Glauben der Leser hingeschrieben,
und ist erdichtet und falsch.

Dieses Verhältniß des Fußes zu dem Körper, welches einem Gelehr-
ten seltsam und unbegreiflich scheinet 5), und vom Perrault platterdings

ver-
1) L. 3. c. 1.
2) Aul. Gel. Noct. Att. L. 1. c. 1.
3) Tratt. della Pit. L. 1. c. 10.
4) Ibid. L. 6. c. 3. p. 287.
5) Huet. in Huetian.

I Theil. Viertes Capitel.
vermuthen, daß dieſe Figur nach der Natur gearbeitet worden, wo dieſes
Theil alſo beſchaffen geweſen ſeyn wuͤrde. Ich will aber auf dieſe Art die
wirklichen Vergehungen nicht bemaͤnteln: denn wenn das Ohr nicht mit
der Naſe gleich ſtehet, wie es ſeyn ſollte, ſondern iſt, wie an dem Bruſt-
bilde eines Indiſchen Bacchus des Herrn Cardinals Alexander Albani, ſo
iſt dieſes ein Fehler, welcher nicht zu entſchuldigen iſt.

γ ſonderlich
in Abſicht auf
das Maaß des
Fußes, wo die
irrigen Ein-
wendungen
einiger Scri-
benten wider-
leget werden.

Die Regeln der Proportion, ſo wie ſie in der Kunſt von dem Ver-
haͤltniſſe des Menſchlichen Koͤrpers genommen worden, ſind wahrſcheinlich
von den Bildhauern zuerſt beſtimmet, und nachher auch Regeln in der
Baukunſt geworden. Der Fuß war bey den Alten die Regel in allen
großen Ausmeſſungen, und die Bildhauer ſetzten nach der Laͤnge deſſelben
das Maaß ihrer Statuen, und gaben denſelben Sechs Laͤngen des Fußes,
wie Vitruvius bezeuget 1): den der Fuß hat ein beſtimmteres Maaß, als
der Kopf, oder das Geſicht, wonach die neueren Maler und Bildhauer ins-
gemein rechnen. Pythagoras gab daher die Laͤnge des Hercules an 2),
nach dem Maaße des Fußes, mit welchem er das Olympiſche Stadium
zu Elis ausgemeſſen. Hieraus aber iſt mit dem Lomazzo 3) auf keine
Weiſe zu ſchließen, daß der Fuß deſſelben das ſiebente Theil ſeiner Laͤnge
gehalten; und was eben dieſer Scribent gleichſam als ein Augenzeuge ver-
ſichert 4) von den beſtimmten Proportionen der alten Kuͤnſtler an verſchie-
denen Gottheiten, wie zehen Geſichter fuͤr eine Venus, neun Geſichter
fuͤr eine Juno, acht Geſichter fuͤr einen Neptunus, und ſieben fuͤr einen
Hercules, iſt mit Zuverſicht auf guten Glauben der Leſer hingeſchrieben,
und iſt erdichtet und falſch.

Dieſes Verhaͤltniß des Fußes zu dem Koͤrper, welches einem Gelehr-
ten ſeltſam und unbegreiflich ſcheinet 5), und vom Perrault platterdings

ver-
1) L. 3. c. 1.
2) Aul. Gel. Noct. Att. L. 1. c. 1.
3) Tratt. della Pit. L. 1. c. 10.
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[174/0224] I Theil. Viertes Capitel. vermuthen, daß dieſe Figur nach der Natur gearbeitet worden, wo dieſes Theil alſo beſchaffen geweſen ſeyn wuͤrde. Ich will aber auf dieſe Art die wirklichen Vergehungen nicht bemaͤnteln: denn wenn das Ohr nicht mit der Naſe gleich ſtehet, wie es ſeyn ſollte, ſondern iſt, wie an dem Bruſt- bilde eines Indiſchen Bacchus des Herrn Cardinals Alexander Albani, ſo iſt dieſes ein Fehler, welcher nicht zu entſchuldigen iſt. Die Regeln der Proportion, ſo wie ſie in der Kunſt von dem Ver- haͤltniſſe des Menſchlichen Koͤrpers genommen worden, ſind wahrſcheinlich von den Bildhauern zuerſt beſtimmet, und nachher auch Regeln in der Baukunſt geworden. Der Fuß war bey den Alten die Regel in allen großen Ausmeſſungen, und die Bildhauer ſetzten nach der Laͤnge deſſelben das Maaß ihrer Statuen, und gaben denſelben Sechs Laͤngen des Fußes, wie Vitruvius bezeuget 1): den der Fuß hat ein beſtimmteres Maaß, als der Kopf, oder das Geſicht, wonach die neueren Maler und Bildhauer ins- gemein rechnen. Pythagoras gab daher die Laͤnge des Hercules an 2), nach dem Maaße des Fußes, mit welchem er das Olympiſche Stadium zu Elis ausgemeſſen. Hieraus aber iſt mit dem Lomazzo 3) auf keine Weiſe zu ſchließen, daß der Fuß deſſelben das ſiebente Theil ſeiner Laͤnge gehalten; und was eben dieſer Scribent gleichſam als ein Augenzeuge ver- ſichert 4) von den beſtimmten Proportionen der alten Kuͤnſtler an verſchie- denen Gottheiten, wie zehen Geſichter fuͤr eine Venus, neun Geſichter fuͤr eine Juno, acht Geſichter fuͤr einen Neptunus, und ſieben fuͤr einen Hercules, iſt mit Zuverſicht auf guten Glauben der Leſer hingeſchrieben, und iſt erdichtet und falſch. Dieſes Verhaͤltniß des Fußes zu dem Koͤrper, welches einem Gelehr- ten ſeltſam und unbegreiflich ſcheinet 5), und vom Perrault platterdings ver- 1) L. 3. c. 1. 2) Aul. Gel. Noct. Att. L. 1. c. 1. 3) Tratt. della Pit. L. 1. c. 10. 4) Ibid. L. 6. c. 3. p. 287. 5) Huet. in Huetian.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/224>, abgerufen am 29.03.2024.