Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

Von der Kunst unter den Griechen.
verworfen wird 1), gründet sich auf die Erfahrung in der Natur, auch
in geschlanken Gewächsen, und dieses Verhältniß findet nicht allein an
Aegyptischen Figuren, nach genauer Ausmessung derselben, sondern auch
an den Griechischen, wie sich an den mehresten Statuen zeigen würde,
wenn sich die Füße an denselben erhalten hätten. Man kann sich davon
überzeugen an Göttlichen Figuren, an deren Länge man einige Theile über
das natürliche Maaß hat anwachsen lassen; am Apollo, welcher etwas
über sieben Köpfe hoch ist, hat der stehende Fuß drey Zolle eines Römi-
schen Palms mehr in der Länge, als der Kopf; und eben dieses Verhältniß
hat Albrecht Dürer seinen Figuren von acht Köpfen gegeben, an welchen
der Fuß das sechste Theil ihrer Höhe ist. Das Gewächs der Mediceischen
Venus ist ungemein geschlank, und ohngeachtet der Kopf sehr klein ist,
hält dennoch die Länge derselben nicht mehr, als sieben Köpfe und einen hal-
ben: der Fuß derselben ist einen Palm und einen halben Zoll lang, und
die ganze Höhe der Figur beträgt sechs und einen halben Palm.

Es lehren unsere Künstler insgemein ihre Schüler bemerken, daß
die alten Bildhauer, sonderlich in Göttlichen Figuren, das Theil des Lei-
bes von der Herzgrube bis an den Nabel, welches gewöhnlich nur eine
Gesichtslänge, wie sie sagen, hält, um einen halben Theil des Gesichts
länger gehalten, als es sich in der Natur findet. Dieses aber ist ebenfalls
irrig: denn wer die Natur an schönen geschlanken Menschen zu sehen Ge-
legenheit hat, wird besagtes Theil wie an den Statuen finden.

Eine umständliche Anzeige der Verhältnisse des Menschlichen Körpers
würde das leichteste in dieser Abhandlung von der Griechischen Zeichnung
des Nackenden gewesen seyn, aber es würde diese bloße Theorie ohne
practische Anführung hier eben so wenig unterrichtend werden, als in an-
deren Schriften, wo man sich weitläuftig, auch ohne Figuren beyzufügen,

hinein-
1) Vitruv. L. 3. ch. 1. p. 57. n. 3.

Von der Kunſt unter den Griechen.
verworfen wird 1), gruͤndet ſich auf die Erfahrung in der Natur, auch
in geſchlanken Gewaͤchſen, und dieſes Verhaͤltniß findet nicht allein an
Aegyptiſchen Figuren, nach genauer Ausmeſſung derſelben, ſondern auch
an den Griechiſchen, wie ſich an den mehreſten Statuen zeigen wuͤrde,
wenn ſich die Fuͤße an denſelben erhalten haͤtten. Man kann ſich davon
uͤberzeugen an Goͤttlichen Figuren, an deren Laͤnge man einige Theile uͤber
das natuͤrliche Maaß hat anwachſen laſſen; am Apollo, welcher etwas
uͤber ſieben Koͤpfe hoch iſt, hat der ſtehende Fuß drey Zolle eines Roͤmi-
ſchen Palms mehr in der Laͤnge, als der Kopf; und eben dieſes Verhaͤltniß
hat Albrecht Duͤrer ſeinen Figuren von acht Koͤpfen gegeben, an welchen
der Fuß das ſechſte Theil ihrer Hoͤhe iſt. Das Gewaͤchs der Mediceiſchen
Venus iſt ungemein geſchlank, und ohngeachtet der Kopf ſehr klein iſt,
haͤlt dennoch die Laͤnge derſelben nicht mehr, als ſieben Koͤpfe und einen hal-
ben: der Fuß derſelben iſt einen Palm und einen halben Zoll lang, und
die ganze Hoͤhe der Figur betraͤgt ſechs und einen halben Palm.

Es lehren unſere Kuͤnſtler insgemein ihre Schuͤler bemerken, daß
die alten Bildhauer, ſonderlich in Goͤttlichen Figuren, das Theil des Lei-
bes von der Herzgrube bis an den Nabel, welches gewoͤhnlich nur eine
Geſichtslaͤnge, wie ſie ſagen, haͤlt, um einen halben Theil des Geſichts
laͤnger gehalten, als es ſich in der Natur findet. Dieſes aber iſt ebenfalls
irrig: denn wer die Natur an ſchoͤnen geſchlanken Menſchen zu ſehen Ge-
legenheit hat, wird beſagtes Theil wie an den Statuen finden.

Eine umſtaͤndliche Anzeige der Verhaͤltniſſe des Menſchlichen Koͤrpers
wuͤrde das leichteſte in dieſer Abhandlung von der Griechiſchen Zeichnung
des Nackenden geweſen ſeyn, aber es wuͤrde dieſe bloße Theorie ohne
practiſche Anfuͤhrung hier eben ſo wenig unterrichtend werden, als in an-
deren Schriften, wo man ſich weitlaͤuftig, auch ohne Figuren beyzufuͤgen,

hinein-
1) Vitruv. L. 3. ch. 1. p. 57. n. 3.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0225" n="175"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von der Kun&#x017F;t unter den Griechen.</hi></fw><lb/>
verworfen wird <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq">Vitruv. L. 3. ch. 1. p. 57. n.</hi> 3.</note>, gru&#x0364;ndet &#x017F;ich auf die Erfahrung in der Natur, auch<lb/>
in ge&#x017F;chlanken Gewa&#x0364;ch&#x017F;en, und die&#x017F;es Verha&#x0364;ltniß findet nicht allein an<lb/>
Aegypti&#x017F;chen Figuren, nach genauer Ausme&#x017F;&#x017F;ung der&#x017F;elben, &#x017F;ondern auch<lb/>
an den Griechi&#x017F;chen, wie &#x017F;ich an den mehre&#x017F;ten Statuen zeigen wu&#x0364;rde,<lb/>
wenn &#x017F;ich die Fu&#x0364;ße an den&#x017F;elben erhalten ha&#x0364;tten. Man kann &#x017F;ich davon<lb/>
u&#x0364;berzeugen an Go&#x0364;ttlichen Figuren, an deren La&#x0364;nge man einige Theile u&#x0364;ber<lb/>
das natu&#x0364;rliche Maaß hat anwach&#x017F;en la&#x017F;&#x017F;en; am Apollo, welcher etwas<lb/>
u&#x0364;ber &#x017F;ieben Ko&#x0364;pfe hoch i&#x017F;t, hat der &#x017F;tehende Fuß drey Zolle eines Ro&#x0364;mi-<lb/>
&#x017F;chen Palms mehr in der La&#x0364;nge, als der Kopf; und eben die&#x017F;es Verha&#x0364;ltniß<lb/>
hat <hi rendition="#fr">Albrecht Du&#x0364;rer</hi> &#x017F;einen Figuren von acht Ko&#x0364;pfen gegeben, an welchen<lb/>
der Fuß das &#x017F;ech&#x017F;te Theil ihrer Ho&#x0364;he i&#x017F;t. Das Gewa&#x0364;chs der Medicei&#x017F;chen<lb/>
Venus i&#x017F;t ungemein ge&#x017F;chlank, und ohngeachtet der Kopf &#x017F;ehr klein i&#x017F;t,<lb/>
ha&#x0364;lt dennoch die La&#x0364;nge der&#x017F;elben nicht mehr, als &#x017F;ieben Ko&#x0364;pfe und einen hal-<lb/>
ben: der Fuß der&#x017F;elben i&#x017F;t einen Palm und einen halben Zoll lang, und<lb/>
die ganze Ho&#x0364;he der Figur betra&#x0364;gt &#x017F;echs und einen halben Palm.</p><lb/>
              <p>Es lehren un&#x017F;ere Ku&#x0364;n&#x017F;tler insgemein ihre Schu&#x0364;ler bemerken, daß<lb/>
die alten Bildhauer, &#x017F;onderlich in Go&#x0364;ttlichen Figuren, das Theil des Lei-<lb/>
bes von der Herzgrube bis an den Nabel, welches gewo&#x0364;hnlich nur eine<lb/>
Ge&#x017F;ichtsla&#x0364;nge, wie &#x017F;ie &#x017F;agen, ha&#x0364;lt, um einen halben Theil des Ge&#x017F;ichts<lb/>
la&#x0364;nger gehalten, als es &#x017F;ich in der Natur findet. Die&#x017F;es aber i&#x017F;t ebenfalls<lb/>
irrig: denn wer die Natur an &#x017F;cho&#x0364;nen ge&#x017F;chlanken Men&#x017F;chen zu &#x017F;ehen Ge-<lb/>
legenheit hat, wird be&#x017F;agtes Theil wie an den Statuen finden.</p><lb/>
              <p>Eine um&#x017F;ta&#x0364;ndliche Anzeige der Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e des Men&#x017F;chlichen Ko&#x0364;rpers<lb/>
wu&#x0364;rde das leichte&#x017F;te in die&#x017F;er Abhandlung von der Griechi&#x017F;chen Zeichnung<lb/>
des Nackenden gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, aber es wu&#x0364;rde die&#x017F;e bloße Theorie ohne<lb/>
practi&#x017F;che Anfu&#x0364;hrung hier eben &#x017F;o wenig unterrichtend werden, als in an-<lb/>
deren Schriften, wo man &#x017F;ich weitla&#x0364;uftig, auch ohne Figuren beyzufu&#x0364;gen,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">hinein-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[175/0225] Von der Kunſt unter den Griechen. verworfen wird 1), gruͤndet ſich auf die Erfahrung in der Natur, auch in geſchlanken Gewaͤchſen, und dieſes Verhaͤltniß findet nicht allein an Aegyptiſchen Figuren, nach genauer Ausmeſſung derſelben, ſondern auch an den Griechiſchen, wie ſich an den mehreſten Statuen zeigen wuͤrde, wenn ſich die Fuͤße an denſelben erhalten haͤtten. Man kann ſich davon uͤberzeugen an Goͤttlichen Figuren, an deren Laͤnge man einige Theile uͤber das natuͤrliche Maaß hat anwachſen laſſen; am Apollo, welcher etwas uͤber ſieben Koͤpfe hoch iſt, hat der ſtehende Fuß drey Zolle eines Roͤmi- ſchen Palms mehr in der Laͤnge, als der Kopf; und eben dieſes Verhaͤltniß hat Albrecht Duͤrer ſeinen Figuren von acht Koͤpfen gegeben, an welchen der Fuß das ſechſte Theil ihrer Hoͤhe iſt. Das Gewaͤchs der Mediceiſchen Venus iſt ungemein geſchlank, und ohngeachtet der Kopf ſehr klein iſt, haͤlt dennoch die Laͤnge derſelben nicht mehr, als ſieben Koͤpfe und einen hal- ben: der Fuß derſelben iſt einen Palm und einen halben Zoll lang, und die ganze Hoͤhe der Figur betraͤgt ſechs und einen halben Palm. Es lehren unſere Kuͤnſtler insgemein ihre Schuͤler bemerken, daß die alten Bildhauer, ſonderlich in Goͤttlichen Figuren, das Theil des Lei- bes von der Herzgrube bis an den Nabel, welches gewoͤhnlich nur eine Geſichtslaͤnge, wie ſie ſagen, haͤlt, um einen halben Theil des Geſichts laͤnger gehalten, als es ſich in der Natur findet. Dieſes aber iſt ebenfalls irrig: denn wer die Natur an ſchoͤnen geſchlanken Menſchen zu ſehen Ge- legenheit hat, wird beſagtes Theil wie an den Statuen finden. Eine umſtaͤndliche Anzeige der Verhaͤltniſſe des Menſchlichen Koͤrpers wuͤrde das leichteſte in dieſer Abhandlung von der Griechiſchen Zeichnung des Nackenden geweſen ſeyn, aber es wuͤrde dieſe bloße Theorie ohne practiſche Anfuͤhrung hier eben ſo wenig unterrichtend werden, als in an- deren Schriften, wo man ſich weitlaͤuftig, auch ohne Figuren beyzufuͤgen, hinein- 1) Vitruv. L. 3. ch. 1. p. 57. n. 3.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/225
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/225>, abgerufen am 25.04.2024.