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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
wie ohne Bedeutung und gleichsam erstorben gewesen wäre, lebhafter und
wirksamer gemacht wurde. Dieses würde auch die Königinn Elisabeth
von Engeland, welche durchaus ohne Schatten gemalet seyn wollte 1),
zugestanden haben. Die Kunst, welche sich hier mit Grunde über die Na-
tur erhob, machte aus dieser Bildung eine fast allgemeine Regel, auch im
Kleinen: denn man sieht an Köpfen auf Münzen aus den besten Zeiten,
die Augen eben so tief liegen, und der Augenknochen ist auf denselben er-
habener, als in spätern Zeiten; man betrachte die Münzen Alexanders des
Großen, und seiner Nachfolger. In Metall deutete man gewisse Dinge an,
welche in dem Flore der Kunst in Marmor übergangen wurden; das Licht
z. E. wie es die Künstler nennen, oder der Stern, findet sich schon vor den
Zeiten des Phidias auf Münzen, an den Köpfen des Gero und des Hiero,
durch einen erhabenen Punct angezeiget. Dieses Licht aber wurde in
Marmor, so viel wir wissen, allererst den Köpfen in dem ersten Jahr-
hunderte der Kaiser gegeben, und es sind nur wenige, welche dasselbe ha-
ben; einer von denselben ist der Kopf des Marcellus, Enkels des Augu-
stus, im Campidoglio. Viele Köpfe in Erzt haben ausgehöhlte, und von
anderer Materie eingesetzte Augen: die Pallas des Phidias, deren Kopf
von Elfenbein war, hatte den Stern im Auge von Stein 2).

dd Der Stirn.

Eine schöne Stirn soll nach den Anzeigen einiger alten Scribenten
kurz seyn, und gleichwohl ist eine freye große Stirn nicht so häßlich, son-
dern vielmehr das Gegentheil. Die Erklärung dieses scheinbaren Wider-
spruchs ist leicht zu geben: kurz soll sie seyn an der Jugend, wie sie ist in
der Blüte der Jahre, ehe der kurze Haarwachs auf der Stirn ausgehet,
und dieselbe bloß läßt. Es würde also wider die Eigenschaft der Jugend
seyn, ihr eine freye hohe Stirn zu geben, welche aber dem Männlichen
Alter eigen ist.

Das
1) Walpole's Catal. of the noble Authors &c. p. 125.
2) Plato Hipp. maj. p. 349. l. 7. ed. Basil.

I Theil. Viertes Capitel.
wie ohne Bedeutung und gleichſam erſtorben geweſen waͤre, lebhafter und
wirkſamer gemacht wurde. Dieſes wuͤrde auch die Koͤniginn Eliſabeth
von Engeland, welche durchaus ohne Schatten gemalet ſeyn wollte 1),
zugeſtanden haben. Die Kunſt, welche ſich hier mit Grunde uͤber die Na-
tur erhob, machte aus dieſer Bildung eine faſt allgemeine Regel, auch im
Kleinen: denn man ſieht an Koͤpfen auf Muͤnzen aus den beſten Zeiten,
die Augen eben ſo tief liegen, und der Augenknochen iſt auf denſelben er-
habener, als in ſpaͤtern Zeiten; man betrachte die Muͤnzen Alexanders des
Großen, und ſeiner Nachfolger. In Metall deutete man gewiſſe Dinge an,
welche in dem Flore der Kunſt in Marmor uͤbergangen wurden; das Licht
z. E. wie es die Kuͤnſtler nennen, oder der Stern, findet ſich ſchon vor den
Zeiten des Phidias auf Muͤnzen, an den Koͤpfen des Gero und des Hiero,
durch einen erhabenen Punct angezeiget. Dieſes Licht aber wurde in
Marmor, ſo viel wir wiſſen, allererſt den Koͤpfen in dem erſten Jahr-
hunderte der Kaiſer gegeben, und es ſind nur wenige, welche daſſelbe ha-
ben; einer von denſelben iſt der Kopf des Marcellus, Enkels des Augu-
ſtus, im Campidoglio. Viele Koͤpfe in Erzt haben ausgehoͤhlte, und von
anderer Materie eingeſetzte Augen: die Pallas des Phidias, deren Kopf
von Elfenbein war, hatte den Stern im Auge von Stein 2).

δδ Der Stirn.

Eine ſchoͤne Stirn ſoll nach den Anzeigen einiger alten Scribenten
kurz ſeyn, und gleichwohl iſt eine freye große Stirn nicht ſo haͤßlich, ſon-
dern vielmehr das Gegentheil. Die Erklaͤrung dieſes ſcheinbaren Wider-
ſpruchs iſt leicht zu geben: kurz ſoll ſie ſeyn an der Jugend, wie ſie iſt in
der Bluͤte der Jahre, ehe der kurze Haarwachs auf der Stirn ausgehet,
und dieſelbe bloß laͤßt. Es wuͤrde alſo wider die Eigenſchaft der Jugend
ſeyn, ihr eine freye hohe Stirn zu geben, welche aber dem Maͤnnlichen
Alter eigen iſt.

Das
1) Walpole’s Catal. of the noble Authors &c. p. 125.
2) Plato Hipp. maj. p. 349. l. 7. ed. Baſil.
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[180/0230] I Theil. Viertes Capitel. wie ohne Bedeutung und gleichſam erſtorben geweſen waͤre, lebhafter und wirkſamer gemacht wurde. Dieſes wuͤrde auch die Koͤniginn Eliſabeth von Engeland, welche durchaus ohne Schatten gemalet ſeyn wollte 1), zugeſtanden haben. Die Kunſt, welche ſich hier mit Grunde uͤber die Na- tur erhob, machte aus dieſer Bildung eine faſt allgemeine Regel, auch im Kleinen: denn man ſieht an Koͤpfen auf Muͤnzen aus den beſten Zeiten, die Augen eben ſo tief liegen, und der Augenknochen iſt auf denſelben er- habener, als in ſpaͤtern Zeiten; man betrachte die Muͤnzen Alexanders des Großen, und ſeiner Nachfolger. In Metall deutete man gewiſſe Dinge an, welche in dem Flore der Kunſt in Marmor uͤbergangen wurden; das Licht z. E. wie es die Kuͤnſtler nennen, oder der Stern, findet ſich ſchon vor den Zeiten des Phidias auf Muͤnzen, an den Koͤpfen des Gero und des Hiero, durch einen erhabenen Punct angezeiget. Dieſes Licht aber wurde in Marmor, ſo viel wir wiſſen, allererſt den Koͤpfen in dem erſten Jahr- hunderte der Kaiſer gegeben, und es ſind nur wenige, welche daſſelbe ha- ben; einer von denſelben iſt der Kopf des Marcellus, Enkels des Augu- ſtus, im Campidoglio. Viele Koͤpfe in Erzt haben ausgehoͤhlte, und von anderer Materie eingeſetzte Augen: die Pallas des Phidias, deren Kopf von Elfenbein war, hatte den Stern im Auge von Stein 2). Eine ſchoͤne Stirn ſoll nach den Anzeigen einiger alten Scribenten kurz ſeyn, und gleichwohl iſt eine freye große Stirn nicht ſo haͤßlich, ſon- dern vielmehr das Gegentheil. Die Erklaͤrung dieſes ſcheinbaren Wider- ſpruchs iſt leicht zu geben: kurz ſoll ſie ſeyn an der Jugend, wie ſie iſt in der Bluͤte der Jahre, ehe der kurze Haarwachs auf der Stirn ausgehet, und dieſelbe bloß laͤßt. Es wuͤrde alſo wider die Eigenſchaft der Jugend ſeyn, ihr eine freye hohe Stirn zu geben, welche aber dem Maͤnnlichen Alter eigen iſt. Das 1) Walpole’s Catal. of the noble Authors &c. p. 125. 2) Plato Hipp. maj. p. 349. l. 7. ed. Baſil.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/230>, abgerufen am 18.04.2024.