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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
beyzukommen. Ein Bildhauer dieses Namens ist ferner der erste gewesen,
welcher mit dem Bohrer gearbeitet hat 1); der Meister des Laocoons aber,
welcher aus der schönsten Zeit der Kunst seyn muß, hat den Bohrer an den
Haaren, an dem Kopfe, und in den Tiefen des Gewandes gebraucht.
Callimachus der Bildhauer soll ferner das Corinthische Capitäl erfunden
haben 2); Scopas aber, der berühmte Bildhauer, bauete in der sechs und
neunzigsten Olympias einen Tempel mit Corinthischen Säulen 3): also
hätte Callimachus zur Zeit der größten Künstler, und vor dem Meister der
Niobe, welches vermuthlich Scopas ist (wie im zweyten Theile wird
untersuchet werden) und vor dem Meister des Laocoons gelebet, welches
sich mit der Zeit, die aus der Ordnung der Künstler, in welcher ihn Pli-
nius setzet, zu ziehen ist, nicht wohl reimet. Hierzu kommt, daß dieses
Stück zu Horta, einer Gegend, wo die Hetrurier wohneten, gefunden
worden; welcher Umstand allein viel Wahrscheinlichkeit giebt, daß es ein
Werk Hetrurischer Kunst sey, von welcher es alle Eigenschaften hat.

So wie man dieses Werk für eine Griechische Arbeit hält, so würden
auf der andern Seite die im vorigen Capitel angeführten drey schöne gemalte
irrdene Gefäße des Mastrillischen Musei zu Neapel, und eine Schaale in
dem Königlichen Museo zu Portici, für Hetrurisch angesehen worden seyn,
wenn nicht die Griechische Schrift auf denselben das Gegentheil zeigete 4).

B.
Eigenschaften
dieses älteren
Stils.

Von diesem älteren Stile würden deutlichere Kennzeichen zu geben
seyn, wenn sich mehrere Werke in Marmor, und sonderlich erhobene Ar-

beiten,
1) Paus. L. 1. p. 63. l. 25.
2) Vitruv. L. 4. c. 1.
3) Paus. L. 8. p. 693. l. 19.
4) Diese Gefäße sind in Kupfer gestochen und erkläret zu finden in des Canonici Mazocchi
Erläuterung der Heracleischen Tafeln, in gedachtem Königlichen Museo. Die Kupfer
aber geben einen schlechten Begriff, weil sie nach elenden Zeichnungen, welche ich gesehen
habe, gemacht sind. Es scheinet, daß der Verfasser die Originale weniger, als die
Zeichnungen, betrachtet habe, weil ihm sonst der Betrug an einem andern kleinern Ge-
fäße dieses Musei, auf welchem, nach Anzeige der Schrift, Juno, Mars und Däda-
lus stehen, hätte in die Augen fallen müssen. Diese Schrift ist nicht gemalet, wie
auf

I Theil. Viertes Capitel.
beyzukommen. Ein Bildhauer dieſes Namens iſt ferner der erſte geweſen,
welcher mit dem Bohrer gearbeitet hat 1); der Meiſter des Laocoons aber,
welcher aus der ſchoͤnſten Zeit der Kunſt ſeyn muß, hat den Bohrer an den
Haaren, an dem Kopfe, und in den Tiefen des Gewandes gebraucht.
Callimachus der Bildhauer ſoll ferner das Corinthiſche Capitaͤl erfunden
haben 2); Scopas aber, der beruͤhmte Bildhauer, bauete in der ſechs und
neunzigſten Olympias einen Tempel mit Corinthiſchen Saͤulen 3): alſo
haͤtte Callimachus zur Zeit der groͤßten Kuͤnſtler, und vor dem Meiſter der
Niobe, welches vermuthlich Scopas iſt (wie im zweyten Theile wird
unterſuchet werden) und vor dem Meiſter des Laocoons gelebet, welches
ſich mit der Zeit, die aus der Ordnung der Kuͤnſtler, in welcher ihn Pli-
nius ſetzet, zu ziehen iſt, nicht wohl reimet. Hierzu kommt, daß dieſes
Stuͤck zu Horta, einer Gegend, wo die Hetrurier wohneten, gefunden
worden; welcher Umſtand allein viel Wahrſcheinlichkeit giebt, daß es ein
Werk Hetruriſcher Kunſt ſey, von welcher es alle Eigenſchaften hat.

So wie man dieſes Werk fuͤr eine Griechiſche Arbeit haͤlt, ſo wuͤrden
auf der andern Seite die im vorigen Capitel angefuͤhrten drey ſchoͤne gemalte
irrdene Gefaͤße des Maſtrilliſchen Muſei zu Neapel, und eine Schaale in
dem Koͤniglichen Muſeo zu Portici, fuͤr Hetruriſch angeſehen worden ſeyn,
wenn nicht die Griechiſche Schrift auf denſelben das Gegentheil zeigete 4).

B.
Eigenſchaften
dieſes aͤlteren
Stils.

Von dieſem aͤlteren Stile wuͤrden deutlichere Kennzeichen zu geben
ſeyn, wenn ſich mehrere Werke in Marmor, und ſonderlich erhobene Ar-

beiten,
1) Pauſ. L. 1. p. 63. l. 25.
2) Vitruv. L. 4. c. 1.
3) Pauſ. L. 8. p. 693. l. 19.
4) Dieſe Gefaͤße ſind in Kupfer geſtochen und erklaͤret zu finden in des Canonici Mazocchi
Erlaͤuterung der Heracleiſchen Tafeln, in gedachtem Koͤniglichen Muſeo. Die Kupfer
aber geben einen ſchlechten Begriff, weil ſie nach elenden Zeichnungen, welche ich geſehen
habe, gemacht ſind. Es ſcheinet, daß der Verfaſſer die Originale weniger, als die
Zeichnungen, betrachtet habe, weil ihm ſonſt der Betrug an einem andern kleinern Ge-
faͤße dieſes Muſei, auf welchem, nach Anzeige der Schrift, Juno, Mars und Daͤda-
lus ſtehen, haͤtte in die Augen fallen muͤſſen. Dieſe Schrift iſt nicht gemalet, wie
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[220/0270] I Theil. Viertes Capitel. beyzukommen. Ein Bildhauer dieſes Namens iſt ferner der erſte geweſen, welcher mit dem Bohrer gearbeitet hat 1); der Meiſter des Laocoons aber, welcher aus der ſchoͤnſten Zeit der Kunſt ſeyn muß, hat den Bohrer an den Haaren, an dem Kopfe, und in den Tiefen des Gewandes gebraucht. Callimachus der Bildhauer ſoll ferner das Corinthiſche Capitaͤl erfunden haben 2); Scopas aber, der beruͤhmte Bildhauer, bauete in der ſechs und neunzigſten Olympias einen Tempel mit Corinthiſchen Saͤulen 3): alſo haͤtte Callimachus zur Zeit der groͤßten Kuͤnſtler, und vor dem Meiſter der Niobe, welches vermuthlich Scopas iſt (wie im zweyten Theile wird unterſuchet werden) und vor dem Meiſter des Laocoons gelebet, welches ſich mit der Zeit, die aus der Ordnung der Kuͤnſtler, in welcher ihn Pli- nius ſetzet, zu ziehen iſt, nicht wohl reimet. Hierzu kommt, daß dieſes Stuͤck zu Horta, einer Gegend, wo die Hetrurier wohneten, gefunden worden; welcher Umſtand allein viel Wahrſcheinlichkeit giebt, daß es ein Werk Hetruriſcher Kunſt ſey, von welcher es alle Eigenſchaften hat. So wie man dieſes Werk fuͤr eine Griechiſche Arbeit haͤlt, ſo wuͤrden auf der andern Seite die im vorigen Capitel angefuͤhrten drey ſchoͤne gemalte irrdene Gefaͤße des Maſtrilliſchen Muſei zu Neapel, und eine Schaale in dem Koͤniglichen Muſeo zu Portici, fuͤr Hetruriſch angeſehen worden ſeyn, wenn nicht die Griechiſche Schrift auf denſelben das Gegentheil zeigete 4). Von dieſem aͤlteren Stile wuͤrden deutlichere Kennzeichen zu geben ſeyn, wenn ſich mehrere Werke in Marmor, und ſonderlich erhobene Ar- beiten, 1) Pauſ. L. 1. p. 63. l. 25. 2) Vitruv. L. 4. c. 1. 3) Pauſ. L. 8. p. 693. l. 19. 4) Dieſe Gefaͤße ſind in Kupfer geſtochen und erklaͤret zu finden in des Canonici Mazocchi Erlaͤuterung der Heracleiſchen Tafeln, in gedachtem Koͤniglichen Muſeo. Die Kupfer aber geben einen ſchlechten Begriff, weil ſie nach elenden Zeichnungen, welche ich geſehen habe, gemacht ſind. Es ſcheinet, daß der Verfaſſer die Originale weniger, als die Zeichnungen, betrachtet habe, weil ihm ſonſt der Betrug an einem andern kleinern Ge- faͤße dieſes Muſei, auf welchem, nach Anzeige der Schrift, Juno, Mars und Daͤda- lus ſtehen, haͤtte in die Augen fallen muͤſſen. Dieſe Schrift iſt nicht gemalet, wie auf

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/270>, abgerufen am 25.04.2024.