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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
ten Hercules in dem ältern und zuvor angedeuteten Stile. Nun hat
Stesichorus mit dem Simonides zu gleicher Zeit gelebet, nemlich in der
zwey und siebenzigsten Olympias 1), oder um die Zeit, da Xerxes wider die
Griechen zog; und Phidias, welcher die Kunst zu ihrer Höhe getrieben,
blühete in der acht und siebenzigsten Olympias: es müßten also besagte
Steine kurz vor oder gewiß nach jener Olympias gearbeitet seyn. Strabo
aber giebt eine viel ältere Nachricht von denen dem Hercules beygelegten
Zeichen 2); es soll diese Erdichtung vom Pisander herrühren, welcher,
wie einige wollen, mit dem Eumolpus zu gleicher Zeit gelebet hat, und von
andern in die drey und dreyßigste Olympias gesetzet wird: die ältesten Fi-
guren des Hercules haben weder Keule noch Bogen gehabt, wie Strabo
versichert.

C.
Vorbereitung
dieses Stils
zum hohen
Stile.

Die Eigenschaften dieses ältern Stils waren unterdessen die Vorbe-
reitungen zum hohen Stil der Kunst, und führeten diesen zur strengen
Richtigkeit und zum hohen Ausdruck: denn in der Härte von jenem
offenbaret sich der genau bezeichnete Umriß, und die Gewißheit der Kennt-
niß, wo alles aufgedeckt vor Augen liegt. Auf eben diesem Wege würde
die Kunst in neueren Zeiten, durch die scharfen Umrisse, und durch die
nachdrückliche Andeutung aller Theile vom Michael Angelo, zu ihrer Hö-
he gelanget seyn, wenn die Bildhauer auf dieser Spur geblieben wären.
Denn wie in Erlernung der Music und der Sprachen, dort die Töne, und
hier die Sylben und Worte, scharf und deutlich müssen angegeben werden,
um zur reinen Harmonie und zur flüßigen Aussprache zu gelangen: eben
so führet die Zeichnung nicht durch schwebende, verlohrne und leicht ange-
deutete Züge, sondern durch männliche, obgleich etwas harte, und genau
begränzte Umrisse, zur Wahrheit und zur Schönheit der Form. Mit einem
ähnlichen Stile erhob sich die Tragödie zu eben der Zeit, da die Kunst den

großen
1) Bentley's Diss. upon Phalar. p. 36.
2) Geogr. L. 15. p. 688. C.

I Theil. Viertes Capitel.
ten Hercules in dem aͤltern und zuvor angedeuteten Stile. Nun hat
Steſichorus mit dem Simonides zu gleicher Zeit gelebet, nemlich in der
zwey und ſiebenzigſten Olympias 1), oder um die Zeit, da Xerxes wider die
Griechen zog; und Phidias, welcher die Kunſt zu ihrer Hoͤhe getrieben,
bluͤhete in der acht und ſiebenzigſten Olympias: es muͤßten alſo beſagte
Steine kurz vor oder gewiß nach jener Olympias gearbeitet ſeyn. Strabo
aber giebt eine viel aͤltere Nachricht von denen dem Hercules beygelegten
Zeichen 2); es ſoll dieſe Erdichtung vom Piſander herruͤhren, welcher,
wie einige wollen, mit dem Eumolpus zu gleicher Zeit gelebet hat, und von
andern in die drey und dreyßigſte Olympias geſetzet wird: die aͤlteſten Fi-
guren des Hercules haben weder Keule noch Bogen gehabt, wie Strabo
verſichert.

C.
Vorbereitung
dieſes Stils
zum hohen
Stile.

Die Eigenſchaften dieſes aͤltern Stils waren unterdeſſen die Vorbe-
reitungen zum hohen Stil der Kunſt, und fuͤhreten dieſen zur ſtrengen
Richtigkeit und zum hohen Ausdruck: denn in der Haͤrte von jenem
offenbaret ſich der genau bezeichnete Umriß, und die Gewißheit der Kennt-
niß, wo alles aufgedeckt vor Augen liegt. Auf eben dieſem Wege wuͤrde
die Kunſt in neueren Zeiten, durch die ſcharfen Umriſſe, und durch die
nachdruͤckliche Andeutung aller Theile vom Michael Angelo, zu ihrer Hoͤ-
he gelanget ſeyn, wenn die Bildhauer auf dieſer Spur geblieben waͤren.
Denn wie in Erlernung der Muſic und der Sprachen, dort die Toͤne, und
hier die Sylben und Worte, ſcharf und deutlich muͤſſen angegeben werden,
um zur reinen Harmonie und zur fluͤßigen Ausſprache zu gelangen: eben
ſo fuͤhret die Zeichnung nicht durch ſchwebende, verlohrne und leicht ange-
deutete Zuͤge, ſondern durch maͤnnliche, obgleich etwas harte, und genau
begraͤnzte Umriſſe, zur Wahrheit und zur Schoͤnheit der Form. Mit einem
aͤhnlichen Stile erhob ſich die Tragoͤdie zu eben der Zeit, da die Kunſt den

großen
1) Bentley’s Diſſ. upon Phalar. p. 36.
2) Geogr. L. 15. p. 688. C.
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[222/0272] I Theil. Viertes Capitel. ten Hercules in dem aͤltern und zuvor angedeuteten Stile. Nun hat Steſichorus mit dem Simonides zu gleicher Zeit gelebet, nemlich in der zwey und ſiebenzigſten Olympias 1), oder um die Zeit, da Xerxes wider die Griechen zog; und Phidias, welcher die Kunſt zu ihrer Hoͤhe getrieben, bluͤhete in der acht und ſiebenzigſten Olympias: es muͤßten alſo beſagte Steine kurz vor oder gewiß nach jener Olympias gearbeitet ſeyn. Strabo aber giebt eine viel aͤltere Nachricht von denen dem Hercules beygelegten Zeichen 2); es ſoll dieſe Erdichtung vom Piſander herruͤhren, welcher, wie einige wollen, mit dem Eumolpus zu gleicher Zeit gelebet hat, und von andern in die drey und dreyßigſte Olympias geſetzet wird: die aͤlteſten Fi- guren des Hercules haben weder Keule noch Bogen gehabt, wie Strabo verſichert. Die Eigenſchaften dieſes aͤltern Stils waren unterdeſſen die Vorbe- reitungen zum hohen Stil der Kunſt, und fuͤhreten dieſen zur ſtrengen Richtigkeit und zum hohen Ausdruck: denn in der Haͤrte von jenem offenbaret ſich der genau bezeichnete Umriß, und die Gewißheit der Kennt- niß, wo alles aufgedeckt vor Augen liegt. Auf eben dieſem Wege wuͤrde die Kunſt in neueren Zeiten, durch die ſcharfen Umriſſe, und durch die nachdruͤckliche Andeutung aller Theile vom Michael Angelo, zu ihrer Hoͤ- he gelanget ſeyn, wenn die Bildhauer auf dieſer Spur geblieben waͤren. Denn wie in Erlernung der Muſic und der Sprachen, dort die Toͤne, und hier die Sylben und Worte, ſcharf und deutlich muͤſſen angegeben werden, um zur reinen Harmonie und zur fluͤßigen Ausſprache zu gelangen: eben ſo fuͤhret die Zeichnung nicht durch ſchwebende, verlohrne und leicht ange- deutete Zuͤge, ſondern durch maͤnnliche, obgleich etwas harte, und genau begraͤnzte Umriſſe, zur Wahrheit und zur Schoͤnheit der Form. Mit einem aͤhnlichen Stile erhob ſich die Tragoͤdie zu eben der Zeit, da die Kunſt den großen 1) Bentley’s Diſſ. upon Phalar. p. 36. 2) Geogr. L. 15. p. 688. C.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/272>, abgerufen am 25.04.2024.