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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Griechen.
glücklichen Einbildung, wenn sie sich anschauend nahe bis zur Göttlichen
Schönheit erheben könnte, erzeuget würde; in einer so großen Einheit der
Form und des Umrisses, daß sie nicht mit Mühe gebildet, sondern wie ein
Gedanke erwecket, und mit einem Hauche geblasen zu seyn scheinet. So
wie die fertige Hand des großen Raphaels, die seinem Verstande als ein
schnelles Werkzeug gehorchete, mit einem einzigen Zuge der Feder den
schönsten Umriß des Kopfs einer heiligen Jungfrau entwerfen, und un-
verbessert richtig zur Ausführung bestimmet setzen würde.

Zu einer deutlichern Bestimmung der Kenntnisse und der Eigen-III.
Der schöne
Stil.

schaften dieses hohen Stils der großen Verbesserer der Kunst, ist nach
dem Verlust ihrer Werke nicht zu gelangen. Von dem Stile
ihrer Nachfolger aber, welchen ich den schönen Stil nenne, kann
man mit mehrerer Zuverläßigkeit reden: denn einige von den schön-
sten Figuren des Alterthums sind ohne Zweifel in der Zeit, in welcher
dieser Stil blühete, gemacht, und viele andere, von denen dieses nicht zu
beweisen ist, sind wenigstens Nachahmungen von jenen. Der schöne
Stil der Kunst hebet sich an vom Praxiteles, und erlangete seinen höchsten
Glanz durch den Lysippus und Apelles, wovon unten die Zeugnisse ange-
führet werden; es ist also der Stil nicht lange vor und zur Zeit Alexanders
des Großen und seiner Nachfolger.

Die vornehmste Eigenschaft, durch welche sich dieser von dem hohenA.
Dessen Eigen-
schaften.

Stile unterscheidet, ist die Gratie, und in Absicht derselben werden die zu-
letzt genannten Künstler sich gegen ihre Vorgänger verhalten haben, wie
unter den Neuern Guido sich gegen den Raphael verhalten würde. Die-
ses wird sich deutlicher in Betrachtung der Zeichnung dieses Stils, und des
besondern Theils derselben, der Gratie, zeigen.

Was die Zeichnung allgemein betrifft, so wurde alles Eckigte ver-
mieden, was bisher noch in den Statuen großer Künstler, als des Poly-

cletus,
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Von der Kunſt unter den Griechen.
gluͤcklichen Einbildung, wenn ſie ſich anſchauend nahe bis zur Goͤttlichen
Schoͤnheit erheben koͤnnte, erzeuget wuͤrde; in einer ſo großen Einheit der
Form und des Umriſſes, daß ſie nicht mit Muͤhe gebildet, ſondern wie ein
Gedanke erwecket, und mit einem Hauche geblaſen zu ſeyn ſcheinet. So
wie die fertige Hand des großen Raphaels, die ſeinem Verſtande als ein
ſchnelles Werkzeug gehorchete, mit einem einzigen Zuge der Feder den
ſchoͤnſten Umriß des Kopfs einer heiligen Jungfrau entwerfen, und un-
verbeſſert richtig zur Ausfuͤhrung beſtimmet ſetzen wuͤrde.

Zu einer deutlichern Beſtimmung der Kenntniſſe und der Eigen-III.
Der ſchoͤne
Stil.

ſchaften dieſes hohen Stils der großen Verbeſſerer der Kunſt, iſt nach
dem Verluſt ihrer Werke nicht zu gelangen. Von dem Stile
ihrer Nachfolger aber, welchen ich den ſchoͤnen Stil nenne, kann
man mit mehrerer Zuverlaͤßigkeit reden: denn einige von den ſchoͤn-
ſten Figuren des Alterthums ſind ohne Zweifel in der Zeit, in welcher
dieſer Stil bluͤhete, gemacht, und viele andere, von denen dieſes nicht zu
beweiſen iſt, ſind wenigſtens Nachahmungen von jenen. Der ſchoͤne
Stil der Kunſt hebet ſich an vom Praxiteles, und erlangete ſeinen hoͤchſten
Glanz durch den Lyſippus und Apelles, wovon unten die Zeugniſſe ange-
fuͤhret werden; es iſt alſo der Stil nicht lange vor und zur Zeit Alexanders
des Großen und ſeiner Nachfolger.

Die vornehmſte Eigenſchaft, durch welche ſich dieſer von dem hohenA.
Deſſen Eigen-
ſchaften.

Stile unterſcheidet, iſt die Gratie, und in Abſicht derſelben werden die zu-
letzt genannten Kuͤnſtler ſich gegen ihre Vorgaͤnger verhalten haben, wie
unter den Neuern Guido ſich gegen den Raphael verhalten wuͤrde. Die-
ſes wird ſich deutlicher in Betrachtung der Zeichnung dieſes Stils, und des
beſondern Theils derſelben, der Gratie, zeigen.

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cletus,
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[227/0277] Von der Kunſt unter den Griechen. gluͤcklichen Einbildung, wenn ſie ſich anſchauend nahe bis zur Goͤttlichen Schoͤnheit erheben koͤnnte, erzeuget wuͤrde; in einer ſo großen Einheit der Form und des Umriſſes, daß ſie nicht mit Muͤhe gebildet, ſondern wie ein Gedanke erwecket, und mit einem Hauche geblaſen zu ſeyn ſcheinet. So wie die fertige Hand des großen Raphaels, die ſeinem Verſtande als ein ſchnelles Werkzeug gehorchete, mit einem einzigen Zuge der Feder den ſchoͤnſten Umriß des Kopfs einer heiligen Jungfrau entwerfen, und un- verbeſſert richtig zur Ausfuͤhrung beſtimmet ſetzen wuͤrde. Zu einer deutlichern Beſtimmung der Kenntniſſe und der Eigen- ſchaften dieſes hohen Stils der großen Verbeſſerer der Kunſt, iſt nach dem Verluſt ihrer Werke nicht zu gelangen. Von dem Stile ihrer Nachfolger aber, welchen ich den ſchoͤnen Stil nenne, kann man mit mehrerer Zuverlaͤßigkeit reden: denn einige von den ſchoͤn- ſten Figuren des Alterthums ſind ohne Zweifel in der Zeit, in welcher dieſer Stil bluͤhete, gemacht, und viele andere, von denen dieſes nicht zu beweiſen iſt, ſind wenigſtens Nachahmungen von jenen. Der ſchoͤne Stil der Kunſt hebet ſich an vom Praxiteles, und erlangete ſeinen hoͤchſten Glanz durch den Lyſippus und Apelles, wovon unten die Zeugniſſe ange- fuͤhret werden; es iſt alſo der Stil nicht lange vor und zur Zeit Alexanders des Großen und ſeiner Nachfolger. III. Der ſchoͤne Stil. Die vornehmſte Eigenſchaft, durch welche ſich dieſer von dem hohen Stile unterſcheidet, iſt die Gratie, und in Abſicht derſelben werden die zu- letzt genannten Kuͤnſtler ſich gegen ihre Vorgaͤnger verhalten haben, wie unter den Neuern Guido ſich gegen den Raphael verhalten wuͤrde. Die- ſes wird ſich deutlicher in Betrachtung der Zeichnung dieſes Stils, und des beſondern Theils derſelben, der Gratie, zeigen. A. Deſſen Eigen- ſchaften. Was die Zeichnung allgemein betrifft, ſo wurde alles Eckigte ver- mieden, was bisher noch in den Statuen großer Kuͤnſtler, als des Poly- cletus, F f 2

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/277>, abgerufen am 18.04.2024.