Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

I Theil. Viertes Capitel.
"dene Weise geschehen; aber ein stilles weises Wesen kann we-
"der leicht nachgeahmet, noch das nachgeahmte leicht begriffen
"werden."

Mit solchen strengen Begriffen der Schönheit fing die Kunst an, wie
wohl eingerichtete Staaten mit strengen Gesetzen, groß zu werden. Die
nächsten Nachfolger der großen Gesetzgeber in der Kunst, verfuhren nicht,
wie Solon mit den Gesetzen des Draco; sie giengen nicht von jenen ab:
sondern, wie die richtigsten Gesetze durch eine gemäßigte Erklärung brauch-
barer und annehmlicher werden, so suchten diese die hohen Schönheiten,
die an Statuen ihrer großen Meister wie von der Natur abstracte Ideen,
und nach einem Lehrgebäude gebildete Formen waren, näher zur Natur zu
führen, und eben dadurch erhielten sie eine größere Mannigfaltigkeit. In
diesem Verstande ist die Gratie zu nehmen, welche die Meister des schönen
Stils in ihre Werke geleget haben.

Aber die Gratie, welche, wie die Musen 1), nur in zween Namen 2)
bey den ältesten Griechen verehret wurde, scheinet, wie die Venus, deren Ge-
spielen jene sind, von verschiedener Natur zu seyn. Die eine ist, wie die himm-
lische Venus, von höherer Geburt, und von der Harmonie gebildet, und ist
beständig und unveränderlich, wie die ewigen Gesetze von dieser sind. Die
zwote Gratie ist, wie die Venus von der Dione geboren, mehr der Ma-
terie unterworfen: sie ist eine Tochter der Zeit, und nur eine Gefolginn
der ersten, welche sie ankündiget für diejenigen die der himmlischen Gratie
nicht geweihet sind. Diese läßt sich herunter von ihrer Hoheit, und macht
sich mit Mildigkeit, ohne Erniedrigung, denen, die ein Auge auf dieselbe
werfen, theilhaftig: sie ist nicht begierig zu gefallen, sondern nicht uner-
kannt zu bleiben. Jene Gratie aber, eine Gesellinn aller Götter 3), scheinet

sich
1) conf. Liceti Resp. de quaesit. per epist. p. 66.
2) Pausan. L. 9. p. 780. l. 13. L. 2. p. 254. l. 28. conf. Eurip. Iphig. Aul. v. 548.
3) Hom. hymn. in Ven. v. 95.

I Theil. Viertes Capitel.
„dene Weiſe geſchehen; aber ein ſtilles weiſes Weſen kann we-
„der leicht nachgeahmet, noch das nachgeahmte leicht begriffen
„werden.„

Mit ſolchen ſtrengen Begriffen der Schoͤnheit fing die Kunſt an, wie
wohl eingerichtete Staaten mit ſtrengen Geſetzen, groß zu werden. Die
naͤchſten Nachfolger der großen Geſetzgeber in der Kunſt, verfuhren nicht,
wie Solon mit den Geſetzen des Draco; ſie giengen nicht von jenen ab:
ſondern, wie die richtigſten Geſetze durch eine gemaͤßigte Erklaͤrung brauch-
barer und annehmlicher werden, ſo ſuchten dieſe die hohen Schoͤnheiten,
die an Statuen ihrer großen Meiſter wie von der Natur abſtracte Ideen,
und nach einem Lehrgebaͤude gebildete Formen waren, naͤher zur Natur zu
fuͤhren, und eben dadurch erhielten ſie eine groͤßere Mannigfaltigkeit. In
dieſem Verſtande iſt die Gratie zu nehmen, welche die Meiſter des ſchoͤnen
Stils in ihre Werke geleget haben.

Aber die Gratie, welche, wie die Muſen 1), nur in zween Namen 2)
bey den aͤlteſten Griechen verehret wurde, ſcheinet, wie die Venus, deren Ge-
ſpielen jene ſind, von verſchiedener Natur zu ſeyn. Die eine iſt, wie die himm-
liſche Venus, von hoͤherer Geburt, und von der Harmonie gebildet, und iſt
beſtaͤndig und unveraͤnderlich, wie die ewigen Geſetze von dieſer ſind. Die
zwote Gratie iſt, wie die Venus von der Dione geboren, mehr der Ma-
terie unterworfen: ſie iſt eine Tochter der Zeit, und nur eine Gefolginn
der erſten, welche ſie ankuͤndiget fuͤr diejenigen die der himmliſchen Gratie
nicht geweihet ſind. Dieſe laͤßt ſich herunter von ihrer Hoheit, und macht
ſich mit Mildigkeit, ohne Erniedrigung, denen, die ein Auge auf dieſelbe
werfen, theilhaftig: ſie iſt nicht begierig zu gefallen, ſondern nicht uner-
kannt zu bleiben. Jene Gratie aber, eine Geſellinn aller Goͤtter 3), ſcheinet

ſich
1) conf. Liceti Reſp. de quæſit. per epiſt. p. 66.
2) Pauſan. L. 9. p. 780. l. 13. L. 2. p. 254. l. 28. conf. Eurip. Iphig. Aul. v. 548.
3) Hom. hymn. in Ven. v. 95.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p>
                <pb facs="#f0280" n="230"/>
                <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I</hi> Theil. Viertes Capitel.</hi> </fw><lb/> <hi rendition="#fr">&#x201E;dene Wei&#x017F;e ge&#x017F;chehen; aber ein &#x017F;tilles wei&#x017F;es We&#x017F;en kann we-<lb/>
&#x201E;der leicht nachgeahmet, noch das nachgeahmte leicht begriffen<lb/>
&#x201E;werden.&#x201E;</hi> </p><lb/>
              <p>Mit &#x017F;olchen &#x017F;trengen Begriffen der Scho&#x0364;nheit fing die Kun&#x017F;t an, wie<lb/>
wohl eingerichtete Staaten mit &#x017F;trengen Ge&#x017F;etzen, groß zu werden. Die<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;ten Nachfolger der großen Ge&#x017F;etzgeber in der Kun&#x017F;t, verfuhren nicht,<lb/>
wie Solon mit den Ge&#x017F;etzen des Draco; &#x017F;ie giengen nicht von jenen ab:<lb/>
&#x017F;ondern, wie die richtig&#x017F;ten Ge&#x017F;etze durch eine gema&#x0364;ßigte Erkla&#x0364;rung brauch-<lb/>
barer und annehmlicher werden, &#x017F;o &#x017F;uchten die&#x017F;e die hohen Scho&#x0364;nheiten,<lb/>
die an Statuen ihrer großen Mei&#x017F;ter wie von der Natur ab&#x017F;tracte Ideen,<lb/>
und nach einem Lehrgeba&#x0364;ude gebildete Formen waren, na&#x0364;her zur Natur zu<lb/>
fu&#x0364;hren, und eben dadurch erhielten &#x017F;ie eine gro&#x0364;ßere Mannigfaltigkeit. In<lb/>
die&#x017F;em Ver&#x017F;tande i&#x017F;t die Gratie zu nehmen, welche die Mei&#x017F;ter des &#x017F;cho&#x0364;nen<lb/>
Stils in ihre Werke geleget haben.</p><lb/>
              <p>Aber die Gratie, welche, wie die Mu&#x017F;en <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq">conf. Liceti Re&#x017F;p. de quæ&#x017F;it. per epi&#x017F;t. p.</hi> 66.</note>, nur in zween Namen <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#aq">Pau&#x017F;an. L. 9. p. 780. l. 13. L. 2. p. 254. l. 28. conf. Eurip. Iphig. Aul. v.</hi> 548.</note><lb/>
bey den a&#x0364;lte&#x017F;ten Griechen verehret wurde, &#x017F;cheinet, wie die Venus, deren Ge-<lb/>
&#x017F;pielen jene &#x017F;ind, von ver&#x017F;chiedener Natur zu &#x017F;eyn. Die eine i&#x017F;t, wie die himm-<lb/>
li&#x017F;che Venus, von ho&#x0364;herer Geburt, und von der Harmonie gebildet, und i&#x017F;t<lb/>
be&#x017F;ta&#x0364;ndig und unvera&#x0364;nderlich, wie die ewigen Ge&#x017F;etze von die&#x017F;er &#x017F;ind. Die<lb/>
zwote Gratie i&#x017F;t, wie die Venus von der Dione geboren, mehr der Ma-<lb/>
terie unterworfen: &#x017F;ie i&#x017F;t eine Tochter der Zeit, und nur eine Gefolginn<lb/>
der er&#x017F;ten, welche &#x017F;ie anku&#x0364;ndiget fu&#x0364;r diejenigen die der himmli&#x017F;chen Gratie<lb/>
nicht geweihet &#x017F;ind. Die&#x017F;e la&#x0364;ßt &#x017F;ich herunter von ihrer Hoheit, und macht<lb/>
&#x017F;ich mit Mildigkeit, ohne Erniedrigung, denen, die ein Auge auf die&#x017F;elbe<lb/>
werfen, theilhaftig: &#x017F;ie i&#x017F;t nicht begierig zu gefallen, &#x017F;ondern nicht uner-<lb/>
kannt zu bleiben. Jene Gratie aber, eine Ge&#x017F;ellinn aller Go&#x0364;tter <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#aq">Hom. hymn. in Ven. v.</hi> 95.</note>, &#x017F;cheinet<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ich</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[230/0280] I Theil. Viertes Capitel. „dene Weiſe geſchehen; aber ein ſtilles weiſes Weſen kann we- „der leicht nachgeahmet, noch das nachgeahmte leicht begriffen „werden.„ Mit ſolchen ſtrengen Begriffen der Schoͤnheit fing die Kunſt an, wie wohl eingerichtete Staaten mit ſtrengen Geſetzen, groß zu werden. Die naͤchſten Nachfolger der großen Geſetzgeber in der Kunſt, verfuhren nicht, wie Solon mit den Geſetzen des Draco; ſie giengen nicht von jenen ab: ſondern, wie die richtigſten Geſetze durch eine gemaͤßigte Erklaͤrung brauch- barer und annehmlicher werden, ſo ſuchten dieſe die hohen Schoͤnheiten, die an Statuen ihrer großen Meiſter wie von der Natur abſtracte Ideen, und nach einem Lehrgebaͤude gebildete Formen waren, naͤher zur Natur zu fuͤhren, und eben dadurch erhielten ſie eine groͤßere Mannigfaltigkeit. In dieſem Verſtande iſt die Gratie zu nehmen, welche die Meiſter des ſchoͤnen Stils in ihre Werke geleget haben. Aber die Gratie, welche, wie die Muſen 1), nur in zween Namen 2) bey den aͤlteſten Griechen verehret wurde, ſcheinet, wie die Venus, deren Ge- ſpielen jene ſind, von verſchiedener Natur zu ſeyn. Die eine iſt, wie die himm- liſche Venus, von hoͤherer Geburt, und von der Harmonie gebildet, und iſt beſtaͤndig und unveraͤnderlich, wie die ewigen Geſetze von dieſer ſind. Die zwote Gratie iſt, wie die Venus von der Dione geboren, mehr der Ma- terie unterworfen: ſie iſt eine Tochter der Zeit, und nur eine Gefolginn der erſten, welche ſie ankuͤndiget fuͤr diejenigen die der himmliſchen Gratie nicht geweihet ſind. Dieſe laͤßt ſich herunter von ihrer Hoheit, und macht ſich mit Mildigkeit, ohne Erniedrigung, denen, die ein Auge auf dieſelbe werfen, theilhaftig: ſie iſt nicht begierig zu gefallen, ſondern nicht uner- kannt zu bleiben. Jene Gratie aber, eine Geſellinn aller Goͤtter 3), ſcheinet ſich 1) conf. Liceti Reſp. de quæſit. per epiſt. p. 66. 2) Pauſan. L. 9. p. 780. l. 13. L. 2. p. 254. l. 28. conf. Eurip. Iphig. Aul. v. 548. 3) Hom. hymn. in Ven. v. 95.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/280
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/280>, abgerufen am 18.04.2024.